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Bad Schussenried - Die Autorin Hannelore Nussbaum aus Bad Schussenried hat 2022 ein Buch mit Kurzgeschichten und Gedichten herausgebracht („Das kirschrote Stirnband"). Anfangs der 1950er-Jahre hatte die Literatin, Jahrgang 1933, aufgewachsen in Ulm, den später weltberühmten Gestalter Otl Aicher (1922 – 1991) kennengelernt. In einer Kurzgeschichte erinnert sie an ihre Begegnung mit dem Grafiker, der nach langer Planungsphase 1953 zusammen mit seiner Frau Inge Aicher-Scholl, dem Schweizer Architekten Max Bill und anderen die Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG) gründete. Im Vorfeld der Gründung hatte es viel Skepsis in Söflingen, wo die HfG ihren Platz finden sollte, gegeben.

Vier Jahrzehnte später, 1993, machte Frau Nussbaum eine Ballonfahrt von Munderkingen aus. Der Wind trieb den Ballon Richtung Nordosten, Richtung Ulm. Da kam ihr die Bekanntschaft mit dem jungen Otl Aicher in gemeinsamen Ulmer Tagen wieder in den Sinn. Hier ihre Otl-Aicher-Geschichte, veröffentlicht in ihrem Buch „Das kirschrote Stirnband". Die kurze Erzählung trägt den Titel „Sentimental Journey“. Hannelore Nussbaum beschreibt ein HfG-Fest im Juli 1952, zu dem sie als 18-Jährige eingeladen war. Anmerkung: Damals war man mit 18 Jahren noch nicht volljährig (erst mit 21).

Sentimental Journey
„Mit Feuer und Wind in die Lüfte aufsteigen und einen Stehplatz haben am Himmel“, so verheißt die Werbung, und diesmal kann ich nicht widerstehen. Was soll’s? Heute ist Sommeranfang und ich habe mich zu einer Ballonfahrt angemeldet. Gegen Abend werde ich auf einer Wiese an der oberen Donau von drei Männern mit kräftigem Händedruck begrüßt. Junge Gesichter unter roten Baseballmützen, einer stellt sich als Robert, mein Ballonführer, vor. „Hallo!“, ich versuche, meine Stimme fest klingen zu lassen, um mein Herzklopfen zu überspielen.

Nahe am Ufer bereiten sie den Ballonstart vor. Über ein Gebläse wird Luft in die Hülle aus Nylongewebe geleitet, die sich zu einem birnenförmigen Gebilde formt und aussieht wie ein riesiger schwarz-weiß-rot gestreifter Lampion. Auch der Ballonkorb aus Weidengeflecht steht schon bereit, behäbig und vertrauenerweckend. „Wie hoch werden wir steigen?“ Ich bemühe mich um einen munteren Ton. „Es kommt darauf an, was der Wind macht. Überraschungen kann es immer geben“, bekomme ich von Robert zur Antwort. In diesem Augenblick ahne ich noch nicht, wie recht er hat.

Schon hieven mich zwei kräftige Männerarme in die Höhe, und ich stehe im Korb. Mit leisem Ächzen löst sich das Himmelsgefährt vom Grund. Sanft, ganz sanft hebt es ab, steigt und lässt sich treiben, eins mit dem Sommerwind. Nur hin und wieder sticht das Fauchen der Brennerflamme wie ein Messer in die abendliche Stille. Dieses lautlose Schweben hat viele Namen: Losgelassenheit, Freiheit, Glück.

Unter mir samtgrünes Dunkel, von Büschen gesäumt. Dazwischen in strenger Ordnung lehmgelbe Wege. Wilde Kamille und Klatschmohn behaupten ihren Platz am Saum der Kornfelder. Hunde verfolgen mit Gebell den rätselhaften Schatten, der übers Dorf zieht. Übermütig beginne ich zu winken. Ein paar Leute am Dorfbrunnen winken lachend zurück, einer hebt den Mostkrug in die Höhe und ruft etwas, das ich nicht verstehe. Häuser mit roten Dächern, spielzeuggroß, teilen sich den Platz bei der Kirche. Winzig auch die alte Kapelle am Waldrand, deren Ziegelmauerwerk sich ins Weiß der Holunderbüsche duckt. Der Ballon gewinnt an Höhe. „Wohin fahren wir?“ frage ich Robert, der den Höhenmesser abliest. Er hebt die Schultern: „Frag den Wind!“ Und der Wind zeigt sich als Freund, denn er dreht auf Nordost.

Der Ballon zieht langsam über die dunklen Wipfel eines Fichtenwaldes. Wie ein Hufeisen umschließen sie eine Wiese. Ist das nicht die Wiese von damals? Unsere Wiese auf dem Hochsträß bei Ulm? Dort, wo wenige Jahre später mit dem Bau der Hochschule für Gestaltung begonnen wird?

Diffuses Licht Erinnerung. Allmählich erwachen die Gestalten. Anfangs sind sie noch gesichtslos und ohne Namen, aber dann begegne ich dir, dem jungen Mädchen mit dem dunklen Haar, meinem Ich von damals. Du sitzt auf der Wiese am Rande des Kornfelds und trägst dein Lieblingskleid, weiß mit blauen Schmetterlingen. Es stammt aus einem der Pakete, die noch lange nach der Währungsreform aus Amerika bei der Nachbarin ankamen. Sie verkaufte diese „Liebesgaben“ von Verwandten und Freunden gerne gegen harte D-Mark weiter. So viele Sommer hast du das Kleid getragen, bis es ganz verwaschen war.

Du sitzt an diesem Sommerabend auf einer feldgrauen Wehrmachtsdecke, die Arme um die Knie gelegt. Der Duft nach frisch gemähtem Gras streift dein Gesicht, ein schwacher Hauch kitzelt deine bloßen Arme. Der Vollmond spielt Beleuchter, und die Sterne kleben wie Glitzersteine am fast wolkenlosen Himmel. Neben dir sitzt Sonja, um einige Jahre älter. „Hallo Küken“, hat sie eines Morgens im Büro gesagt und ihre Mütterlichkeit hat dich umhüllt wie ein wärmendes Tuch, „du bist doch auch in der Gruppe ,Gestaltung´ von Otl Aicher. Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass übermorgen unser Sommernachtsfest auf dem Hochsträß steigt!“

Wie hättest du das vergessen können! Wochenlang hast du es nicht gewagt, den Vater um Erlaubnis zu bitten. Aber dass du dabei sein willst, wusstest du schon lange.

Ein Spaziergang mit der Gruppe „Gestaltung“ an der Donau entlang zur Stadtmauer. Ein lauer Sommerabend, und zu vorgerückter Stunde in übermütiger Stimmung auf einer Café-Terrasse unweit des Metzgerturmes eine Wette zwischen Otl Aicher und Dr. H. vom Museum. Du erinnerst dich, dass die Einlösung der Wette etwas mit einem Goldfisch zu tun hatte. Deshalb zierte die Einladungskarte Wochen später ein orangefarbenes Fischlein. Otl Aicher, der dunkelhaarige Feuerkopf, mit der Vielzahl von Visionen, hatte die Wette gewonnen. Er zählte schon damals zu den Hochbegabten unter den Grafikern. Aber du warst viel zu schüchtern, um ihn anzusprechen. „Dein Schwarm!“, neckte Sonja dich und erreichte damit nur, dass du über und über rot wurdest ...

„Geh nur zu deinen Spinnern, da gehörst du hin. Aber um Mitternacht bist du zu Hause. Noch bist du nicht volljährig!“ Der Offizierston des Vaters, voll beißendem Spott auch an diesem Abend. Einmal hattest du die Zeit nicht eingehalten und musstest zur Strafe am Samstagnachmittag sein Moped putzen, während deine Freundinnen hinterm Zaun die Hälse reckten und mit Kommentaren nicht sparten. Du hast dir am heißen Auspuff jämmerlich die Finger verbrannt.

Aber heute freust du dich viel zu sehr auf das Fest und überhörst das Gespött des Vaters. Schon lange vor der Zeit stehst du am Gartentor und wartest auf Sonja, auf den hellblauen VW-Käfer, der jeden Augenblick in die Straße einbiegen muss. Wenige Jahre später werden die Studenten der neu gegründeten Hochschule für Gestaltung durch die Obstgärten vom Kuhberg herabkommen und hier den Weg zur Straßenbahnhaltestelle am Söflinger Gemeindeplatz nehmen.

Sie kommen aus einer Welt des Aufbruchs, so hieß es damals, der Phantasie und Kreativität. Nur war die Zeit dafür bei der Bevölkerung noch nicht reif. Neues, Unbekanntes wurde abgelehnt, die Studenten als Chaoten, Faulenzer, Tagediebe beschimpft. Was geht da oben auf dem Berg eigentlich vor sich? Die wollen ihre Zukunft als Fortsetzung des Bauhauses unter Walter Gropius sehen? Wozu holt man einen Max Bill aus der Schweiz als Rektor? Gibt es nicht genug fähige Köpfe im eigenen Land? Und wer trägt die Kosten?

Einmal hatte der Vater beim Skatabend seinen Hut liegen lassen. Du solltest ihn in der Gaststube holen. Inmitten von säuerlichem Bierdunst hörtest du den Nachbarn mit schwerer Zunge sagen: „Und für diese Jugend haben wir dem Iwan unsere Knochen hingehalten!“ Dabei schlug er mit der Hand auf seine Beinprothese. Du hast den Hut am Haken hängen lassen.

Ich sehe dich an diesem Sommerabend auf der Wehrmachtsdecke sitzen und Sonja zuschauen, die ein paar Schritte zum Auto geht, ein Bowlengefäß und einen Korb mit Flaschen holt. Sie füllt Wein und Sekt und goldfarbene Pfirsichstückchen in robuste Schalen. Tobias, Frieder und Vera suchen am Waldrand Reisig. Ein Feuer muss sein, auch wenn die Zeit der Sommersonnenwende schon vorbei ist. Sonja schenkt Bowle aus. Du stehst neben ihr und reichst die Becher weiter. Acht oder zehn werden es gewesen sein, sie werden wieder und wieder gefüllt. Es ist dein allererster Schluck Bowle. Das Prickeln auf der Zunge gefällt dir.

Mit der Zeit bildet sich ein Kreis um Otl Aicher. Er hat die Ärmel des dunklen Hemdes hochgekrempelt, hebt seinen Becher zum Zeichen, dass jetzt die Einlösung der Wette beginnt. Sonja reicht der breitschultrigen Gestalt von Dr. H. ein Glas Wasser, in dem ein kleiner Goldfisch schwimmt. „Lebendig werde ich ihn verschlucken“, hatte, die „Museumslokomotive“, vor ein paar Wochen getönt. Otl Aicher besteht auf dem „lebendig“. Noch ziert sich der Verlierer, bis er schließlich, lautstark angefeuert, das Tierchen schluckt. „A bisserl schwanzelt er no ...!“ jammert der Bayer, legt die Hand auf den Magen und verdreht die Augen.

Unterdessen hat jemand das Feuer entzündet. Knisternd springen die Funken in die Nacht. Mit einem Mal ist ein Knattern zu hören, das sich verstärkt und näherkommt. Der Feldschütz aus dem nahen Dorf, alarmiert vom nächtlichen Feuerschein, steigt vom Moped, und sein fuchsroter Schnurrbart bebt vor Zorn. Himmeldonnerwetter, was ist denn hier los? Otl Aicher kann ihn beruhigen: Es wird niemand zu Schaden kommen, auch nicht die Wiese am Waldrand. Kopfschüttelnd fährt der hagere Hüter von Wald und Flur zurück ins Tal. „Gute Fahrt!“, ruft ihm einer nach.

Wenig später holt einer der Männer ein Grammophon aus seinem Auto, stellt es mitten auf die Wiese. Filmmusik aus Ufa-Tagen. Zarah Leander haucht vom Wind, der ein Lied erzählt und Marika Rökk besingt eine Nacht voller Seligkeit. Die ersten tanzen. Eine neue Platte folgt, Doris Day singt ihren berühmten Song „Sentimental Journey“. Ihr beide, Sonja und du, summt die Melodie mit. Du siehst ihn zuerst, sein dunkles Hemd. Er bleibt vor euch stehen und deutet eine Verbeugung an. Erwartungsvoll schaust du zu Sonja. Aber er meint dich! Wirklich dich! Du spürst nicht die Unebenheit der Wiese, denn du schwebst. Du schwebst und schwebst dem Mond entgegen. Der schneidet eine hässliche Fratze: „Um Mitternacht bist du zu Hause!“ Was kümmert dich der Mond! Du schließt die Augen und sperrst ihn aus.

Der Ballon steigt noch immer. Von weit her höre ich Roberts Stimme: „3000 Meter!“ Er deutet auf den Höhenmesser. In seiner Stimme schwingt Stolz. „Oh“ sage ich höflich und lächle in mich hinein, denn ich weiß es besser. Meine innere Reise bleibt unvermessen.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung dem Buch „Das kirschrote Stirnband" von Hannelore Nussbaum, das 2022 erschienen ist. Versammelt sind in dem 163 Seiten starken Buch Geschichten und Gedichte der Bad Schussenrieder Autorin. ISBN Nr. 978-3-98221-607-2; Ladenpreis € 20,00 €. Das Titelbild des Buches stammt von Horst Reichle und heißt „Erinnerung“.

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Diese Einladung wurde der jungen Hannelore per Post zugestellt; der Poststempel datiert auf 29. Juli 1952. Das Original dieser Karte befindet sich heute im Archiv der HfG. Repro: Nussbaum

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Titel des Buches „Das kirschrote Stirnband". Repro: N

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