Zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 nehmen wir einen Nebenaspekt der Katastrophe in den Blick: den grünen Bellizismus
Wenn sie im Ausland ist und sich der englischen Sprache bedient, dann redet sie sich gerne in einen Flow. Sie redet ohnehin sehr schnell.
In Prag rutschte ihr in überschwänglicher Parteinahme für die drangsalierte Ukraine der Satz heraus: „Egal was meine deutschen Wähler denken.“ In Straßburg vor dem Europarat ließ sie sich zu dem Satz hinreißen: „Wir führen einen Krieg gegen Russland“ („We are fighting a war against Russia“). Und das als oberste Diplomatin der Bundesrepublik Deutschland!
Es fällt auf, dass Annalena Baerbock ihre Emotion nicht recht im Griff hat. Die Kriegsäußerung war ein Fauxpas, der einer Außenministerin einfach nicht passieren darf.
Emotion ist in der hohen Politik der falsche Ratgeber. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Emotion der Treiber beim grünen Bellizismus ist. Es wäre eine tiefenpsychologische Doktorarbeit wert, die Korrelation zwischen grüner Bellizismusneigung und grüner Juvenilität zu untersuchen. Zugespitzt gesagt: Stimmt die Gleichung „Grün ist jung und jung ist kriegerisch“?
Man lese und staune: 75 Prozent der Grünwähler befürworten laut ZDF-Politbarometer vom 27. 1. 2023 die Panzerlieferungen, weit mehr als der Durchschnitt der Deutschen. Eine atemberaubende Volte haben die einstigen Pazifisten da hingelegt.
Es fällt auf, dass bei den Grünen junge Menschen früh in Positionen mit hoher Verantwortung gehoben werden. Ricarda Lang ist erst 29 und schon Parteichefin und Annalena Baerbock ist erst 42 und mit Entscheidungen über Krieg und Frieden befasst.
Das Gros der Grün-Wähler ist jung. Das ist an und für sich ein beneidenswerter Umstand. Und doch sollte man neben dem Ungestüm der Jugend die Bedächtigkeit der Alten schätzen. In allen Kulturen wird der Rat der Alten hoch geachtet. Diese Seniorität hat schon ihre guten Gründe.
Neben der individuellen Problematik eines zu frühen Einrückens in Positionen von großer Bedeutung ist bei den Grünen eine kollektive Juvenilität zu konstatieren. Die Grünen sind, historisch gesehen, eine junge Partei – auch wenn ihre Gründer mittlerweile im Rentenalter sind. Erst seit wenigen Jahren haben sie Macht zu gestalten. Wer Macht hat, muss sich zu zügeln wissen. Fehlt den Grünen die Reife dazu? Haben sie zu wenig Erfahrung? Der grüne Bellizismus ist ein Indiz hierfür.
Ein Kollektiv mit großem Erfahrungshorizont hat eine andere Lernkurve als ein Kollektiv mit wenig Erfahrung.
Hatte die deutsche Nation, insbesondere deren Jugend, 1914 den Krieg noch überschwänglich begrüßt, so reagierte die Mehrheit der Deutschen 1939 in stummem Bangen auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Der Erste Krieg war noch zu schmerzhaft in Erinnerung. Trotzdem war man dumm genug, ins Desaster zu ziehen.
Weiß Annalena Baerbock von Brest-Litowsk? Vom Separatfrieden, den die Sowjets im März 1918 mit dem Deutschen Reich abschlossen, um ihre Oktober-Revolution zu stabilisieren? Brest-Litowsk zementierte die Oberhoheit des Reichs über die Ukraine.
Diese Expansion im Osten war nur deshalb nicht von Dauer, weil die Westfront zusammenbrach.
Auffällige Parallelität: Nach dem Zerfall des Zarenreiches ab 1917 hat der Westen – zunächst die Mittelmächte, nach 1918 die Westmächte – im postzaristischen Bereich interveniert. Der Westen hat massiv in den Zerfall Russlands eingegriffen und im russischen Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen, zwischen Bolschewiken und einem komplexen Gebilde konterrevolutionärer Kräfte, auf der weißen Seite Partei ergriffen, hat Waffen geliefert und Sezessionsbewegungen unterstützt – auch in der Ukraine.
Vergleichbares vollzieht sich seit Längerem im postsowjetischen Raum. Anstatt nach dem Fall des Eisernen Vorhanges die größte Nation Europas ins europäische Haus zu holen, hat man die Nato-Ostgrenze Richtung Moskau vorgeschoben. Und wie in den Jahren 1918 bis 1920/1922 werden auch jetzt antimoskowitische Kräfte munitioniert.
Die faschistische Aggression gegen Russland 1941 hatte eine Blaupause in dem Diktat von Brest-Litowsk. Auch die Oberste Heeresleitung des kaiserlichen Deutschlands träumte vom Lebensraum im Osten.
Kennt Annalena Baerbock diese großen historischen Linien? Ihr emotionaler Bellizismus lässt daran zweifeln.
Zweimal waren wir schon in der Ukraine, dem Land der fetten Böden und dicken Flöze. Bitte, Frau Ministerin, führen Sie uns nicht in einen dritten Großkampf um dieses reiche arme Land.
Es braucht jetzt eine Verhandlungsoffensive und keine Rüstungsspirale. Die Rüstungsspirale hat durch die jüngste Beistandsgarantie von US-Präsident Biden eine neue Dynamik erhalten.
Der grüne Bellizismus ist Teil dieser Dynamik. Die grünen Bellizisten sind Getriebene, gewiss, aber auch Treiber. Die Eskalation ist brandgefährlich.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Es gilt jetzt aber dringendst nach Lösungen jenseits der bellizistischen Engsicht zu suchen. Wenn es nicht gelingt, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen, wird das Leiden endlos weitergehen.
Gerhard Reischmann
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