Zum Tode von Anneliese Liebel
Gerhard Reischmann, mehr als ein Vierteljahrhundert im Dienst der „Schwäbischen Zeitung“ gewesen, erinnert an Anneliese Liebel, die am 28. Februar um Alter von 91 Jahren gestorben ist:
Hermann Grupp, Chef vom Dienst (CvD) in der Zentralredaktion der „Schwäbischen Zeitung“ in Leutkirch von 1968 bis 1995, war eine Respektsperson. Er pflegte das verbindlich-distanzierte „Sie“; nur mit Wirtschaftsredakteur Dionys Hartmann war er per Du. Beide stammten aus Oberndorf am Neckar, sie kannten sich von Jugend an.
Das CvD-Ressort war ein Scharnier zu den Lokalverlagen. Diese pflegten Tag für Tag zwischen 16.00 Uhr und 17.00 Uhr nach Leutkirch ihre Seiten-Umfänge zu melden. Grupp oder sein Assistent, also ich, wir koordinierten die Lokalumfänge und den Mantelumfang; was simpel klingt, war durchaus diffizil, denn es galt die Kapazitäten von drei verschiedenen Druckstätten und zudem die Wünsche der Anzeigenabteilungen nach Platzierungen und Farbbelegungen zu bedenken.
Auch gegenüber den Kollegen (viele) und Kolleginnen (wenige) draußen in den zwei Dutzend Verlagsorten war Hermann Grupp konsequent beim freundlichen, aber doch auch respektheischenden „Sie“. Wenn aber Bad Waldsee anrief, dann entspann sich ein kurzer Dialog nach diesem Muster: „Wa hosch? Drei? No gibt’s a Füllseite. Ade, Annelies.“
Zur Erklärung: Eine Füllseite, eine vorbereitete, nicht tagesaktuelle Seite, wurde „eingespiegelt“, wenn Lokalumfang und „Mantel“ (der allgemeine Teil der Zeitung) kein druckfähiges Gesamt ergaben (es brauchte eine gerade Seitenzahl; mitunter sogar eine durch 4 teilbare Seitenzahl).
Ja, mit Anneliese Liebel aus Bad Waldsee war Herr Grupp per Du. Beide hatten sich in ihrer Jugend in ihren Pfarreien engagiert, er in Oberndorf, sie in Waldsee. Man traf sich auf nationaler Ebene, so bei einem Bundesfest in Dortmund oder einem Jugendleiter-Treffen in Augsburg.
Das Katholische war Anneliese Liebel zeitlebens wichtig. Sie sang im Kirchenchor. Mit ihrem Bruder Viktor, der Priester war, tauschte sie sich gerne aus. Und der „Petrusbrief“, der Kirchenanzeiger der Stadtpfarrei, wurde in ihrem Haus gedruckt.
Anna Fröhlich, die 1959 als 14-Jährige bei Liebels eintrat, erinnert sich, wie die Lehrlinge auf Fronleichnam Kranzgrün im Schorren holen mussten – unter Führung von Anneliese Liebel. Damit wurde dann das Verlagshaus an der Wurzacher Straße geschmückt. Und wenn beim Frauenbund ein lustiges Nachmittagsprogramm anstand, dann machte Anneliese gerne den Clown. Dabei konnte es vorkommen, dass sie nach dem Auftritt rasch heimeilte, um liegengebliebene Arbeiten zu erledigen. Auch war sie in jungen Jahren, zusammen mit ihrer Schwester Brunhilde, in der Stadt als Nikolaus und Ruprecht unterwegs (wobei ihre ältere Schwester den Bischof gab).
Natürlich trug sie ihr Katholischsein nicht wie eine Monstranz vor sich her. Es zeigte sich in ihrem Handeln, in ihrem Wesen. Sie war den Menschen zugetan, freundlich, hilfsbereit, ansprechbar.
Jahrzehntelang standen im Impressum der Lokalausgabe Bad Waldsee die Worte: „A. Liebel, Anzeigenleitung“. Was sich hinter diesem Eintrag verbarg, war eine souveräne und gleichermaßen bescheidene Dienstleistung. Pflichtbewusst und zuverlässig diente sie ihrem Verlag und damit ihrer Stadt. Selbstverständlich war sie bei Todesfällen auch am Wochenende oder außerhalb der Geschäftszeiten erreichbar. Mit Feingefühl und Kompetenz beriet sie die Trauerfamilien und mit größter Akkuratesse prüfte sie die gesetzten Todesanzeigen. Mit Fug und Recht darf man behaupten, dass in den Jahrzehnten ihrer Anzeigenleitung nie ein Setzfehler in einer Todesanzeige auftauchte.
Als ich im Jahre 2001 aus Leutkirch nach Bad Waldsee versetzt wurde, lernte ich sie näher kennen. Zum Seenachtfest 2001 verfasste ich einen gründlich recherchierten Artikel, befragte Leute an der Kasse nach der Zahlungsmoral, den Bauhof wegen der Arbeiten am Tag danach, den Stadtarchivar zum Fest, wie es früher war und weitere Schaffer, die hinter den Kulissen dafür sorgten, dass das Fest gelingt. Dem „Aufmacher“ gab ich den Titel: „So kommen die 3000 Leuchtbecher auf den See.“ Als der Artikel erschien, kam Frau Liebel in die Redaktion, was sie nahezu nie machte – Zuständigkeitsgrenzen wurden von ihr penibel beachtet – und sagte: „Herr Reischmann, solche Geschichten lieben die Waldseer.“
Im Oktober 2001 wurde sie 70 und ich setzte mich hin und schrieb eine kleine Eloge auf Anneliese Liebel. Wissend um ihre Zurückhaltung, wählte ich dezente Worte und eine bescheidene optische Form, um ihre Lebensleistung zu würdigen. Dem Text gab ich den Titel „Lady Zeitung wird 70“ und mit freudigem Schafferstolz ging ich zu Anneliese Liebel, um ihr mein Werk vor Drucklegung zu zeigen.
Der 1-Spalter „Lady Zeitung wird 70“ ist nie erschienen. Ich hatte ihre Bescheidenheit unterschätzt.
Bescheiden war sie in ihrer Dienstauffassung. Dennoch war sie eine Dame. Stets tadellos gekleidet. Höflich und von jener unaufdringlichen Vornehmheit, wie sie alten Bürgersfamilien zu eigen ist.
Die Waldseer Fasnet war ihr wichtig. Selbstverständlich machte sie bei den Sammlern mit und mit ihren Freundinnen, den „Montagsfrauen“, bereicherte sie die Waldseer Tradition, Anekdotisches aus der Stadt singend mit feinem Humor darzubieten. Die Montagsfrauen hatten jedes Jahr eine andere – selbstgemachte – Kostümierung. Auch das zeugt von ihrer Liebe zur Fasnet. Sage und schreibe 47 Jahre lang ging Anneliese Liebel mit ihren zehn Freundinnen „um den Stock“, wie man in Bad Waldsee sagt – letztmals in der Fasnet 2010.
Ihr feiner Humor war auch ein Aspekt in Pfarrer Werners Traueransprache. Anneliese Liebel habe ein Faible für Charlie Chaplin gehabt, wusste er in seiner sehr persönlich gehaltenen Ansprache zu berichten. Sie habe sich ihr Chaplin-Buch, das sie zum 80. Geburtstag bekommen hatte, sogar ins Krankenhaus bringen lassen.
Natürlich ging Stefan Werner auch auf ihre Familienliebe ein. Geschwister, Nichten, Neffen und die nächste Generation – das war ihr Lebensmittelpunkt. Neben dem Verlag – aber das war ja auch Familie.
Lieder und Texte bei Requiem und Aussegnung würdigten ein langes, gottgefälliges Leben. "Meine Zeit steht in deinen Händen" wurde gesungen und Pfarrer Werner sprach auf dem Friedhof Psalm 23 ("Der Herr ist mein Hirte"). In der Kirche war Psalm 90 zu hören ("Unser Leben währt siebzig Jahre, / und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, / rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin.").
Franz Gapp und Karl Schneider von der Stadtkapelle ließen auf dem Friedhof ihre Trompeten erklingen. Unter anderem spielten sie „O mein Papa war ein wunderbarer Clown“ und „Halleluja“ von Leonard Cohen. Das passte zu dieser feinsinnigen und kulturbeflissenen Frau.
Anneliese Liebel (1931 – 2023). Foto: L