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Ravensburg - Ja, sie kenne den Roman „Im Westen nichts Neues“, dessen Verfilmung aktuell für neun Oscars nominiert ist. Den Film wolle sie sich „unbedingt anschauen“. Und ja, sie wisse um die brutale Eskalation der Gewalt im 1. Weltkrieg bis hin zum Einsatz von Giftgas. Und ja, die Lieferung von deutschen Kampfpanzern an die Ukraine sei notwendig, weil Putin seinen Angriffskrieg ständig eskaliere und auch nicht vor Kriegsverbrechen zurückschrecke. Deshalb könnten auch Kampfflugzeuge für die Ukraine notwendig werden. Eine „rote Linie“ sehe sie dabei nicht. Agnieszka Brugger, grüne Bundestagsabgeordnete aus Ravensburg, erklärt im Gespräch mit BLIX ihre Haltung zu Krieg und Frieden.

 

Die 38-Jährige empfängt in der Kreisgeschäftsstelle der Grünen in der Rosenstraße, passend dazu ihr Kleid mit Blumenmuster. Es ist nicht der erste Versuch mit der Verteidigungspolitikerin ins Gespräch zu kommen, was die Frage provoziert, warum sie als langjähriges Mitglied im Verteidigungsausschuss nicht häufiger zu vernehmen ist bei dem Streit um Waffenlieferungen an die Ukraine, stattdessen geistert Anton Hofreiter, der Grüne aus Bayern und verhinderter Landwirtschaftsminister und neuerdings Waffenexperte, durch die Kulissen und die Medien, immer mit der Forderung nach mehr und schnelleren Waffenlieferungen. Darin sind sich die beiden Grünen einig, wohingegen Brugger vehement widerspricht, dass sie zu wenig wahrnehmbar sei. Das Thema verfolge sie Tag und Nacht und sie werde nicht müde, sich für die Selbstverteidigung der Ukrainer und gegen Putins Angriffskrieg einzusetzen. Eine Eskalation gebe es nur von Seiten Putins, worauf die Ukraine reagieren müsste – und im Gefolge die Nato. Deshalb seien Leopard-Panzer notwendig und deshalb sehe sie auch bei Kampfflugzeugen keine rote Linie. Aber keine Nato-Soldaten in der Ukraine, das sei ihre „rote Linie“ sowie die der Nato, unterstreicht Brugger. (Und im Gespräch mit der Schwäbischen Zeitung, 20.03.23, lehnt sie – weil völkerrechtswidrig – auch den Einsatz von Streumunition ab.)
Einwurf: „Man hat als Beobachter den Eindruck, der Krieg reduziert sich in Berlin auf die Frage, welche Waffen als nächstes geliefert werden. Ihrer FDP-Kollegin Strack-Zimmermann ging die Aufrüstung der Ukraine von Beginn an nicht schnell genug, als wandelnder Haudegen treibt sie den Bundeskanzler vor sich her, und die grüne Außenministerin sieht Europa bereits im Krieg gegen Russland. Ist das die feministische Außenpolitik, Frau Brugger, zu der Sie und Ihre FDP-Kollegin sich bekennen?“ Die Frage wird garniert mit dem Verweis auf das provokante „Friedensmanifest“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, die statt Waffenlieferungen den Beginn von Verhandlungen fordern.

Agnieszka Brugger nimmt selbstverständlich ihre grüne Außenministerin in Schutz. Baerbocks Bemerkung in englischer Sprache sei „eine Metapher, die im Netz verhetzt wurde“. Baerbock habe „das niemals wörtlich gemeint“. Wie auch immer, dass die Alt-Feministin Schwarzer und die Alt-Kommunistin Wagenknecht mit ihrem Appell zum Stopp der Waffenlieferungen und zu Verhandlungen bei der grünen Realpolitikerin schlecht ankommen, erstaunt nicht. Sie könne in dem Appell, der Frauen und Kinder der Gewalt ausliefere, „nichts Feministisches sehen“, ätzt die Grüne. Und scheint mit sich im Reinen: feministische Außenpolitik bedeute, „nicht der Gewalt zuzuschauen“, deshalb unterstütze sie die Aufrüstung der Ukraine zu ihrer Selbstverteidigung.

Gegen die russische Gewalt wendet sich freilich auch Schwarzer und Wagenknecht und am Tag des Interviews titelt die Süddeutsche Zeitung mit einem ausführlichen Plädoyer des Philosophen Jürgen Habermas für Verhandlungen, die gerade wegen der Waffenlieferungen notwendig seien, argumentiert der intellektuelle Großmeister. Die Waffenlieferungen würden die Pflicht mit sich bringen, nicht nur über deren Verwendung, sondern auch über die damit beabsichtigten politischen Ziele zu diskutieren. Diese seien unterschiedlich – und der Westen dürfe sich dabei nicht von der Ukraine abhängig machen, sondern müsse auch mit Russland das Gespräch suchen. Wenngleich er konstatiert, dass Putin dazu noch nicht bereit ist, warnt er vor der verheerenden Dynamik, die Kriege entfalten. Man könne sonst womöglich vor der furchtbaren Alternative stehen, „entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal überlassen“.
Das entspricht nicht dem Denken der Politikstudentin und engagierten Politikerin. Liegt es am Alter, dass für die 38-Jährige die apokalyptische Gefahr eines Atomkrieges nicht handlungsleitend ist – im Unterschied zu dem 93-jährigen Philosophen Habermas? „Wir dürfen uns nicht aus Angst, Russland könnte seine Atomwaffen einsetzen, seiner Bedrohung beugen“, erklärt Brugger. Denn „die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt uns, dass die Annahme, es könnte zu einem Atomkrieg kommen, nicht stimmt“. Als Beleg verweist sie auf Afghanistan, wo Russland, was damals noch die Sowjetunion war, seinen Krieg (1979 bis 89) verloren habe, ohne dass es Atomwaffen eingesetzt habe. Mir ist das kein Trost – die Ukraine ist nicht Afghanistan und Putin nicht das Politbüro und jeder, der noch vom Streit um die Nachrüstung weiß, weiß um das Momentum der Vorwarnzeit, die keine ist. Aber Agnieszka Brugger will mich nicht trösten, sondern setzt mir weiter zu, indem sie Putin als unberechenbaren Lügner bezeichnet. Was stimmen mag, aber meine Sorgen nicht mindert – im Gegenteil.
Da muss die Frage erlaubt sein, ob sie sich nicht auch Sorgen macht, schließlich gebe es neben dem Krieg in der Ukraine auch noch die Klimakrise mit verheerenden Prognosen. Ja, antwortet sie nachdenklich, sie mache sich „große Sorgen angesichts der Klimakrise und des Krieges auf unserem Kontinent“. Brugger: „Wir müssen jetzt den Turbo einschalten und vorangehen.“ Ob ihr die Politik nach 13 Jahren im Bundestag immer noch „Spaß macht“? Klar: „Spaß ist das falsche Wort“, erklärt die Mutter eines vierjährigen Kindes. Aber Politik sei „die sinnhafteste Aufgabe, die ich mir vorstellen kann, gemeinsam daran zu arbeiten, unseren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen“. Die Politikerin schaut auf die Uhr, der nächste Termin … „Das motiviert mich, so viel zu arbeiten.“

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Die 1985 in Polen geborene und ab 1989 in Dortmund aufgewachsene Brugger, geborene Malczak, studierte ab 2004 in Tübingen bis zu ihrer Wahl in den Bundestag 2009 Politikwissenschaft, Philosophie und Öffentliches Recht. Seit 2004 ist sie Mitglied bei den Grünen und machte als Landesvorsitzende der Grünen Jugend auf sich aufmerksam. Der Ravensburger Grüne und heutige Sozialminister Manfred Lucha holte die Nachwuchspolitikerin nach Ravensburg, von wo sie über die Landesliste 2009 in den Bundestag einzog. Sie war mit 24 Jahren die jüngste weibliche Abgeordnete und ist heute stellvertretende Fraktionsvorsitzende und ausgewiesene Sicherheits- und Außenpolitikerin. Nach drei Wahlperioden und vier Wahlen gehört die Mutter eines vierjährigen Kindes zum grünen-oberschwäbischen Establishment, wohnhaft in Ravensburg. 

 

Transparenzhinweis I
Dieser Artikel muss mit zwei Transparenzhinweisen enden. Der Autor dieser Zeilen macht Erich Maria Remarques Buch „Im Westen nichts Neues“ und dessen Fortsetzung „Der Weg zurück“ dafür verantwortlich, dass er einst den Kriegsdienst verweigert hat, nicht per Postkarte, sondern in einer mündlichen Verhandlung. Die beiden Bücher waren dafür ausschlaggebend und meinungsbildend und prägten seinen Blick auf Krieg und Frieden.

Transparenzhinweis II
Das Gespräch mit Agnieszka Brugger fand am 15. Februar von 11 bis 12 Uhr in der Kreisgeschäftsstelle in Ravensburg statt. Die Fragen stellte BLIX-Chefredakteur Roland Reck, begleitet von Alexander Koschny als Fotograf. Das Gespräch wurde von der ersten bis zur letzten Minute aufgezeichnet. Am Ende des Gesprächs wurde vereinbart, dass im Falle, dass der Artikel als Interview erscheint, Frau Brugger ihre Antworten vorab zur Autorisierung erhält. Das ist nicht zwingend, aber Usus.
Aus Gründen der Komplexität und des Umfangs fiel die redaktionelle Entscheidung, das Gespräch nicht als Interview abzudrucken, sondern in der vorliegenden Form (siehe oben) einzubauen. Dazu war eine weitere inhaltliche Absprache weder vorgesehen noch vereinbart.
Am 20. Februar stellte Reck per Mail noch zwei weitere Fragen, deren Erhalt Simon Lassalle, Büroleiter in Berlin, bestätigte und anfragte: „Wann können wir mit den Zitaten bzw. dem Interview zur Autorisierung rechnen?“ Da der Artikel nicht als Interview erscheinen sollte, erhielt Lassalle am 21. Februar eine Zusammenstellung der Zitate, die als solche im Artikel verwendet wurden.
Worauf Lassalle umgehend antwortete: „Da ich selber beim Gespräch nicht dabei sein konnte und Frau Brugger in dieser Woche terminlich sehr eingebunden ist, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir die Zitate einmal im jeweiligen Kontext zukommen lassen könnten. Gerade bei diesen sensiblen Themen könnten sonst schnell Missverständnisse entstehen.“
Das lehnte Reck ab: „Nein, das möchte ich nicht: Zitate und nicht den Kontext, denn dann könnte ich Ihnen ja gleich den Artikel zur Freigabe zukommen lassen. Wohl kaum!“
Lassalle antwortete am 23. Februar: „Ich habe nochmal mit Frau Brugger gesprochen, leider wird Sie diese Sätze so nicht frei geben. Das entspricht in großen Teilen so nicht dem, was Frau Brugger in dem Gespräch gesagt hat. Die vorgeschlagenen Zitate sind teilweise nicht korrekt wiedergegeben, teilweise wird durch die Verkürzung der Aussagen der Sinn entstellt oder ins Gegenteil verkehrt. Sie haben uns leider auch keinen Kontext für die einzelnen Sätze gegeben, was uns eine Einschätzung zusätzlich erschwert.“
Ein anschließendes längeres Telefonat konnte den Disput nicht auflösen. Reck verwies darauf, dass die Zitate dank Aufzeichnung korrekt wiedergegeben sind und beharrte darauf, dass Kontexte grundsätzlich aus professionellen Gründen nicht zur Einsicht übermittelt werden. Ein solches Ansinnen käme einer Zensurabsicht nahe. Was Lassalle empört von sich wies, aber im Falle einer Veröffentlichung des Artikels mit keiner weiteren Zusammenarbeit drohte. 
Zum Rest: siehe Editorial

 

Zum Nachdenken

Ein Blick in den voll besetzten Saal der Biberacher Stadthalle zeigt, dass Winfried Kretschmann sein Publikum begeistert hat. Standing Ovation folgte seiner Rede beim grünen Aschermittwoch. Zuvor war schon der grüne Bundeslandwirtschaftsminister und sein potenzieller Nachfolger Cem Özdemir mit viel Applaus bedacht worden. Demnach entsprach die Performance der grünen Häuptlinge den Erwartungen ihrer Stammesangehörigen. Es war politische Unterhaltung mit seriöser Untermalung, schließlich ist man sowohl in Stuttgart als auch in Berlin Regierungspartei.
Die Lokalpresse konstatiert, dass „es viel Anlass zu lachen – und nachdenken“ gab. Zu Letzterem hätte es in Kriegszeiten etwas mehr bedurft. Özdemir übernahm den Part, kurz auf die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien einzugehen, und überließ dem philosophierenden Ministerpräsidenten Krieg und Frieden. Aber außer den wohlbekannten Schwüren zu Solidarität und Waffenlieferungen war wenig zu hören. Und dass das Thema den Veranstaltern keine besondere Beachtung wert war, zeigte sich auch daran, dass die Sicherheitspolitikerin und Ravensburger Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger nur als Groupie in der zweiten Reihe saß. Die Vertreter des Biberacher Friedensbündnisses, die als Gäste ihre Infos an die meist älteren BesucherInnen verteilen durften, freuten sich zwar über die Gelegenheit, aber machten auch keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, dass den Grünen zum Ukrainekrieg nicht mehr einfalle als Waffenlieferungen. Dementsprechend hatte der philosophierende Ministerpräsident auch nichts zum Philosophen Jürgen Habermas und dessen Mahnung, dass Waffen alleine keinen Frieden schaffen, sondern es auch die Pflicht zu Verhandlungen gebe, nichts zu sagen. Schade eigentlich. 

 

Autor: Roland Reck

Fotos: Alexander Koschny

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