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Weingarten - Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar hat auch die Welt in Oberschwaben verändert. Und der Krieg in Europa ist nicht die einzige Krise, mit der wir zu tun haben. Die Pandemie macht aktuell zwar Sommerpause, aber die Klimakrise und das Artensterben tun es nicht. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer „Zeitenwende“, was viele Fragen aufwirft: Wie wollen und wie können wir in Zukunft (über)leben?, ist dabei zentral. Und dabei ebenso zentral ist die Frage, wie wir wirtschaften. Unser Thema: Wirtschaft(en) in Oberschwaben. Anje Gering ist als Hauptgeschäftsführerin der IHK Bodensee-Oberschwaben darin Expertin, Wirtschaft ist ihr Metier. Wir wollten von ihr wissen, wie „das neue Denken und Handeln“ aussehen könnte, damit die „Transformation“ gelingt.

 

Frau Gering, teilen Sie die Einschätzung von Bundeskanzler Scholz, wonach wir in einer ‚Zeitenwende‘ leben? Wenn ja, wie lässt sie sich definieren?

Der Bundeskanzler hat den Begriff zur Einordnung des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine am 24. Februar benutzt. Es endete eine Ära, in der man den Frieden in Europa als garantiert ansah und es beginnt eine neue, in der zunächst der militärische Konflikt im Vordergrund steht. Im Kern ist das natürlich eine politische Entwicklung, aber es betrifft natürlich auch unsere Wirtschaft: Ganz direkt zunächst diejenigen Unternehmer mit Standorten in der Ukraine, die sich nun um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter kümmern müssen und natürlich auch die Firmen, die sich für Unterbringung, Versorgung und Beschäftigung von aus dem Kriegsgebiet geflüchteten Menschen engagieren.

Und wir spüren derzeit alle, was es bedeutet, wenn Lieferketten unterbrochen sind und Energierohstoffe plötzlich knapp werden. Beim Umgang mit einem möglichen Stopp der russischen Gaslieferungen kommt eine gewaltige gesamtgesellschaftliche Aufgabe auf uns zu, die Unternehmen wie Privatleute gleichermaßen fordern wird. Der Krieg in der Ukraine zeigt uns auch, wie erheblich Krieg in Ländern, die noch nicht einmal zu den Haupthandelspartnern der EU gehören, auf unsere Wirtschaft wirken.

 

Ein Postulat von Ludwig Erhard lautet: ‚Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts!‘ Es kommt also auf die Wirtschaft an. Was können die Unternehmen dazu beitragen, dass die ‚Zeitenwende‘ gelingt, wie ist die Stimmung und wie fühlen Sie sich als Hauptgeschäftsführerin der IHK Bodensee-Oberschwaben mit dieser Verantwortung in dieser ‚Zeitenwende‘?

Eins vorweg: Unternehmer sind in erster Linie Menschen und insofern ist die Stimmung geprägt von der Sorge um die in den Kriegsgebieten lebenden Menschen. Das Zitat von Ludwig Ehrhard passt sehr gut in diese Zeit. Es kommt bei den großen Veränderungen, die um uns herum stattfinden, immer auch auf die Wirtschaft an, denn sie ist die Basis für unseren Wohlstand. 
Meines Erachtens passt auch ein weiteres Zitat von Ehrhard sehr gut zum aktuellen Stand der Debatten innerhalb der Ampelkoalition: ‚Die Volkswirtschaft ist kein Patient, den man pausenlos operieren kann.‘ 
Die Wirtschaft stand bereits schon vor dem Krieg vor großen Veränderungen. Die Transformationsprozesse in Bezug auf Digitalisierung und Dekarbonisierung, die Etablierung einer Kreislaufwirtschaft und der Anspruch im Rahmen all dieser großen Veränderungen im internationalen Vergleich weiterhin Technologieführerschaft und Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen, all das kann nur gemeinsam mit der Wirtschaft geschafft werden. Es ist deshalb wichtig, dass die Unternehmen gerade jetzt Planungssicherheit haben und nicht mit immer neuen Vorgaben in ihren individuellen Anstrengungen zurück geworfen werden, weil sich Investitionen nicht mehr rechnen oder neue bürokratische Hürden wie Dokumentations- und Nachweispflichten aufgebaut werden. Dies in die öffentliche Wahrnehmung zu bringen, den Unternehmern auf diesem Weg bestmögliche Beratungsangebote zu machen und auch die IHK selbst durch diese Transformationsprozesse zu führen, darin sehe ich meine Verantwortung als Hauptgeschäftsführerin.

 

Es steht viel auf dem Spiel auch für die Wirtschaft und die Menschen im Südwesten. Lieferengpässe stören eine exportorientierte Wirtschaft, die Globalisierung als Megatrend steht in Frage, ebenso die Zukunft der Automobilindustrie und ihrer vielen Zulieferer. Der Krieg in der Ukraine blockiert Märkte und Energielieferungen. Außerdem droht die Rückkehr der Pandemie mit all ihren Unwägbarkeiten und schließlich die Klimakrise, in der wir stecken und die ein radikales Umdenken erfordert. Denn laut Albert Einstein lassen sich Probleme nicht mit dem Denken lösen, das sie verursacht hat. Da ist guter Rat und konsequentes Handeln gefragt. Aber wie?

Es ist wichtig, den angefangenen Weg jetzt konsequent weiter zu beschreiten. Oft waren Krisen auch Beschleuniger für Transformationsprozesse und ja, dazu gehört auch ‚neues Denken‘ - wie Sie es zitieren. Wir haben gelernt, dass die Welt komplexer und differenzierter ist und dass in der digitalen Welt viel individuellere Lösungen möglich und gefordert sind, als in der analogen. 
Dazu gerne ein Beispiel aus dem Bereich der Mobilität: Wenn in Ballungszentren ein gut ausgebauter ÖPNV die individuellen Mobilitätsbedürfnisse erfüllt, dann ist das sehr positiv. Auf dem Land aber überall dorthin Schienen zu verlegen, wo Menschen mobil sein müssen und wollen, wäre dieselbe Lösung aus der Schublade ‚altes Denken‘. Mit einer Vorreiterschaft im Bereich CO2-neutrale autonome und vernetzte Mobilität, können wir dem Problem begegnen und die Bedürfnisse der Menschen durch gute Produkte befriedigen. Die Unternehmen der Automobil- und Luftfahrtindustrie sowie ihre Zulieferer benötigen dafür den notwendigen Rückhalt im Sinne wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen, wie ich sie bereits vorhin beschrieben habe. Auch bei Entscheidungen zu Infrastrukturprojekten muss sich ein neues Denken etablieren. Wir müssen ehrlicher werden, und deutlicher herausarbeiten wo Naturschutz im Sinne der Allgemeinheit wirklichen Vorrang hat und an welchem Stellen es eher um eine ‚not-in-my-backyard-Mentalität‘ geht, bei der Einzel-interessen mit Naturschutz getarnt werden. 
Und um Ihre Frage nach der Globalisierung aufzugreifen: Wir erfahren im Sektor Energie gerade schmerzlich, was es bedeuten kann, zu sehr von einem einzelnen anderen Land abhängig zu sein. Die Lösung kann aber nicht sein, das Rad der Geschichte um ganze Jahrzehnte zurückzudrehen und die Globalisierung abzuwickeln. Bei einigen Branchen kann dies vielleicht sinnvoll sein, etwa wenn dort besonders kritische Produkte hergestellt werden und auch in Bereichen wie Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Batterietechnik ist es wünschenswert, dass das Know-How dazu wieder in Europa vor Ort geschaffen wird. Im Großen und Ganzen haben die vergangenen Jahrzehnte aber gezeigt, wie sehr nicht nur wir, sondern auch unsere Partnerinnen und Partner von der internationalen Arbeitsteilung profitieren können. Was es jetzt braucht, ist nicht weniger, sondern mehr internationale Zusammenarbeit: Mit vielen Partnern weltweit und auf Augenhöhe. Eine Abhängigkeit von einigen wenigen Ländern können und dürfen wir uns nicht mehr leisten.

 

Die Wirtschaft hält unbeirrt an ihrem Wachstumsdogma fest. Und das, obwohl wir 77 Jahre nach dem 2. Weltkrieg und fortwährendem Wachstum feststellen müssen, dass die Welt für eine menschliche Zukunft auf der Kippe steht. Wissenschaftler warnen: Der ‚Blaue Planet‘ hält unser Wirtschaften nicht mehr aus, die Klimakrise beweist es. Also verbietet sich ein ‚Weiter so‘. Können Sie sich eine Wirtschaft ohne Wachstum vorstellen?

Wirtschaftswachstum ist für Unternehmer kein Dogma. Wenn überhaupt, dann hält die Wirtschaft – wenn man so will – an einer Art Transformationsdogma fest und verfolgt dieses konsequent, damit Wertschöpfung und Wohlstand auch in unserer Region erhalten bleiben. Die Wirtschaft ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Die Unternehmen investieren viel, um ihre Produkte nachhaltiger zu machen. Umweltaspekte werden im kompletten Produktions- und Vertriebszyklus mitgedacht. Das erfordert viel Arbeit und viele Innovationen. Bei einigen, die denken, die Klimawende könne man mal eben von jetzt auf gleich nur mit Verboten umsetzen, sorgt das naturgemäß auch für Frustration. Diese Stakeholder lade ich gerne zum Dialog ein, wie wir beides schaffen können: Klimaschutz und Wohlstand in einer sicheren und sozialen Gesellschaft. 
Überdies ist Wirtschaft kein Selbstzweck. Über die Steuereinnahmen werden die öffentlichen Aufgaben finanziert und die Unternehmer haben daran einen erheblichen Anteil. Kurz: Was wir als Gesellschaft ausgeben, muss auch erwirtschaftet werden. Die Wertschöpfung nachhaltig und ressourcenschonend zu gestalten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und die Unternehmen leisten ihren Anteil. 

 

Unser Thema ‚Wirtschaft(en) in Oberschwaben‘, was bedeutet es für Sie? Wie sehen Sie die Zukunft (für Ihre Kinder und Enkelkinder)?

Mit ‚Wirtschaft in Oberschwaben‘ verbinde ich die Begriffe ‚erstklassig, familiär und nachhaltig‘. Es ist ein Privileg und eine tolle Aufgabe, in dieser Region als Hauptgeschäftsführerin eine IHK zu führen. Die erfolgreiche Wirtschaft in Oberschwaben ist geprägt von einem starken Mittelstand, der sowohl lokal als auch international agiert. Dabei sind wir natürlich nicht abgekoppelt von den aktuellen Problemlagen. Aber mit ihrem Fokus auf Innovation und Technologie ist die hiesige Wirtschaft resilienter als andernorts und an diese positiven Kräfte glaube ich auch jetzt. Die Zukunft der kommenden Genrationen sehe ich im Zeichen des Fortschritts, einer intakten Umwelt und vor allem Frieden. 

 

Autor: Roland Reck

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