Bad Waldsee - Er ist ein Hansdampf in allen oberschwäbischen Gassen, der beim Braunviehtag im Bauernhausmuseum Wolfegg genauso zur Klampfe greift wie bei der Hauptversammlung des Aulendorfer Geschichtsvereins Traditio – dort allerdings kredenzt er Revolutionslieder aus dem 19. Jahrhundert und macht deutlich, wo sein Herz schlägt: nämlich links von der Mitte. Die Rede ist von Bernhard („Barny“) Bitterwolf, für den das vormärzliche „Die Gedanken sind frei“ kein angestaubter Polit-Song von anno Tobak ist, sondern immerwährende Aufforderung zur Grips-Gymnastik.
Bitterwolf ist ein im Wortsinne Konservativer, der alte Instrumente wiederbelebt (zum Beispiel den Piffel), der auch mal eine klösterliche Komposition aus dem 18. Jahrhundert abstaubt, der aber kein blutleeres Traditions-L’art-pour-l’art betreibt. 36 Jahre lang hat er als Pädagogischer Mitarbeiter der Schwäbischen Bauernschule in Bad Waldsee deren kulturell-musisches Profil geprägt. Jetzt geht er aufs Altenteil.
Zoomen wir mal rein in einen Abend im August vor bald 16 Jahren, als Barny Bitterwolf mit seiner „Boygroup“ HeiliXblechle ein Gastspiel im heimischen Haisterkirch gab. Der Pfarrsaal ist brechend voll. Draußen klebt eine Menschentraube am offenen Saalfenster. Barny fragt: „Ist eine Dame anwesend, die im September Geburtstag hat?“ Da kommt eine Stimme aus dem Off und sagt: „Ich.“ Unter Aufbietung all seines Charmes – und das ist nicht wenig – komplimentiert er Hedwig, eine Dame mittleren Alters, herauf auf die kleine Bühne. Hier bewährt sich Hedwig zum Gaudium des Publikums an der Luftpumpe; ein Helfer munitioniert die Pumpe mit Pfropfen und Hedwig pustet die Stöpsel mit kräftigen Pumpstößen weg. Plopp macht das – und damit es genau an der richtigen Stelle ploppt, gibt Akkordeonist Barny Bitterwolf mit dem Fuß ein Zeichen. Das Publikum ist begeistert und zum Dank für ihr gekonntes Mittun schmachten die vier HeiliXblechle-Mannen ihr Spätzle-Schätzle-Liebeslied. Unter großem Beifall geht Hedwig von der Bühne.
Virtuoser Akkordeonist. Neben seinem Leib- und Magen-Instrument spielt Barny Bitterwolf Gitarre, Klavier, Baritonhorn und etliche historische Instrumente. Foto: SWR
Das ist Barny, wie er leibt und lebt: Das Publikum einbinden, Zwiesprache mit ihm halten, das kann der oberschwäbische Menschenfischer wie nur wenige. Da werden mitunter mehr als Tausend freudig Mitmachende mobilisiert – so auf dem Waldseer Rathausplatz am 5. Juli 2009, als beim oberschwäbischen Städtewettbewerb 1376 Sängerinnen und Sänger unter seinem Dirigat ein Quodlibet aus vier traditionellen Liedern darboten („Rosenstock, Holderblüt“, „Oh, du lieber Augustin“, „Heißa, Kathreinerle“, „Zum Tanze, da geht ein Mädel“). Und am 10. Juli 2011 in Durlesbach. Beim Weltrekord. Damals hat Barny, der „Gotthilf Fischer Oberschwabens“, das Eisenbahnlied erschallen lassen. Von 2132 Leuten!
Man stelle sich das vor: Mehr als 2000 Menschen stehen in Durlesbach neben dem Bäuerle, dem Weible, dem „Konduktör“ und dem Geißbock, der von René Auer in Bronze gegossenen Figurengruppe, und singen aus vollem Halse: „Auf d’r schwäb’scha Eisabahne … Biberach, Meckabeira, Durlesbach …“
So etwas kann nicht aus dem Stand funktionieren. Damit es klappte, brachte Barny, der große Animateur, die Großgruppe mit Vorübungen in Stimmung – mit Kommandos wie „Die Hände hoch“ zu urschwäbischen Ausrufen wie
„Ha noi“ und „Awa“. Mit einem schönen Vorprogramm („Wir wandern in das Feld“, „Frai de heit“, „Wenn alle Brünnlein fließen“ und seinem Waldsee-Song „Lond it luck“) arbeitete er auf den Höhepunkt zu: das Eisenbahnlied.
Aufgewachsen in Aulendorf in einer musisch-politisch ausgerichteten Beamtenfamilie, hat Klein-Bernhard früh Musikuntericht bekommen. In Studentenzeiten (PH Weingarten; Englisch und Musik) bildete sich das Vokalensemble Comedian Singers. Kaum hatte Barny bei der Bauernschule angeheuert, gründete er den Männerchor Haisterkirch, den er 20 Jahre lang als Dirigent führte.
Singen ist für Barny gleichbedeutend mit Gemeinschaft. Das „Singen beim Wirt“ ist ihm eine Herzensangelegenheit. „Wenn Jong ond Alt, wenn Reich ond Arm zsammahocket und a Lied a‘stimmet – oifach schee.“
Wichtig war es dem ausgebildeten Lehrer immer, den jungen Leuten Inputs für ein kreativ-unabhängiges Denken zu geben. Ihnen Rüstzeug zum Mitgestalten der Gesellschaft an die Hand zu geben, dafür hat er sich krummgelegt. „Bauern brauchen einen Horizont. It bloß zum gucka, wia‘s Wett’r wird“, formuliert er schwäbisch-verschmitzt.
Der Mann, der fast 36 Jahre lang in der Bauernschule in Bad Waldsee Junglandwirte schulte, hat eine differenzierte Meinung zur Entwicklung der Landwirtschaft, zum Spannungsfeld zwischen „konventionell“ und „bio“. „Mir gefallen diese Etikettierungen nicht besonders gut“, entgegnet er. „Wenn ein Landwirt, egal ob er konventionell oder biologisch wirtschaftet, seine Arbeit fachkompetent, tierwohlorientiert, ressourcenschonend, nachhaltig und zukunftsgerichtet macht, leistet er einen großen Beitrag zum Erhalt unserer Kulturlandschaft, zur Produktion qualitätsvoller Lebensmittel und damit zum Wohl der Allgemeinheit.“
10. Juli 2011. 2132 Menschen singen in Durlesbach „Auf d’r schwäb’scha Eisabahna …“ Animateur, Antreiber und Dirigent des Massenchores: Barny Bitterwolf. Foto: Rudi Martin
Bitter ist es, dass der Wortgewaltige, der Schlagfertige, der Vorzeige-Schwabe (der auch des Hochdeutschen mächtig ist), der Dozent, der an der Bauernschule Rhetorik lehrte, der Stimmführer und Bänkelsänger, dass dieser Mann des öffentlichen Lebens an einem Halsleiden erkrankt ist, das ihm immer wieder zu schaffen macht. Doch „gjommret wird it“.
Seinem persönlichen Malheur zum Trotz hat der 63-Jährige die Abschiedsbriefe zum Ausscheiden bei der Bauernschule mit einer seiner Lieblingswendungen unterzeichnet: „Bleib xond und gfräs und viele Däg em Sonndigshäs!“ Wenn es ihm pressiert, beim raschen Mailen, pflegt er den wohlwollenden Wunsch auch abzukürzen: bx, barny.
Barny kann auch philosophisch. Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“ sagte er zum vorzeitigen Wechsel aufs Altenteil: „Leben kann man nur nach vorne verlängern.“ Ballast abwerfen, das ist ein Ziel seines neuen Lebensabschnittes. Ob er das schafft? Beim Laufen im Wurzacher Ried gehen ihm schon wieder Pläne durch den Kopf. Mal sehen, was der Max Haller auf seiner Waldburg ausheckt. Oder der Christian Skrodzki mit der Genussmanufaktur in Urlau. Sicher ist: Aufs Holzhacken und „Kanapee-Hiemacha“ wird der Jungpensionär sich nicht beschränken. Aber er wird sich beschränken: Damit die wachsende Familie mehr von ihm hat, damit seine Frau Bettina auch mal eine längere Reise mit ihm machen kann. Sicher ist: Er wird sich weiterhin beim sozialen Verein „Musik hilft Menschen“ einbringen. Und beim Oberschwäbischen Barock-Zentrum, dem in Bad Schussenried ansässigen Büro für Regionalkultur. Und beim Waldseer Kornhaus-Advent, für dessen Nach-Corona-Neustart er schon wieder Ideen hat.
Im Interview mit dem „Schönen Südwesten“ (3/2020) scheint etwas von dem auf, das ihn all die Jahre angetrieben hat (und immer noch umtreibt): „Ich glaube fest daran, wer ein Talent hat und es zurückhält, versündigt sich an sich und seinen Mitmenschen.“ Brauchtum müsse man erhalten, „indem man es lebt“.
Zu den vielen Etiketten, die die vielen Rezensenten Barny in den vielen Jahren seines Schaffens angeklebt haben („Erzmusikant“, „Oberschwäbischer Barde“, „Multitalent“, „Tausendsassa“, „Topmoderator“, „Botschafter Oberschwabens“ …), möchte der Schreiber dieser Zeilen ein weiteres hinzufügen: „D’r Barny, dös isch oiner, der en Applaus verdient hot.“
Bx, Barny!
Der freie Journalist Gerhard Reischmann, Bad Wurzach, ist Autor des Porträtbuches „Menschenskinder – Notizen aus Oberschwaben“ (Lindenberg 2007 und 2008), in dem er ein Kapitel seinem Freund Barny gewidmet hat.
Autor: Gerhard Reischmann