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Biberach - In der Stadt an der Riss findet derzeit eine beachtenswerte Wiederholung statt, und das im Museum. Die Ausstellung „Biberach im Nationalsozialismus“ hatte vor 17 Jahren Premiere. 2006, 61 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, war das Besucherinteresse groß. Die Ausstellung zeigte die Folgen von Gewalt und Verführung im Mikrokosmos einer damals kleinen, verschlafenen, oberschwäbischen Stadt, die sich zu einer Nazi-Hochburg in Oberschwaben mauserte. Nun also die Wiederholung mit vertiefenden biografischen Einblicken zu den zentralen W-Fragen: Wie & Wer & Warum?

Ohne Mitläufer keine Diktatur“, stellt Frank Brunecker, Museumsleiter und Kurator bei der Eröffnung der Ausstellung fest. Das sei „das eigentlich Verstörende an der Beschäftigung mit dem Thema Nationalsozialismus“, erklärt der Historiker. „Unwillkürlich fragt man sich, wie man selbst gehandelt hätte.“
In Biberach vollzog sich, was andernorts und zigfach schon untersucht wurde. Die Nazis hatten leichtes Spiel auch in Biberach – bis zuletzt. („Noch am Tag vor der Besetzung wurde in Biberach ein deutscher Soldat wegen Fahnenflucht standrechtlich erschossen. Und der 82jährige Brauereibesitzer Karl Zell starb, als er am 23. April 1945 eine weiße Fahne hisste und mit der Waffe in der Hand gegen einen deutschen Soldaten ‚verteidigte’.“ Ausstellungskatalog, Seite 237) Da die „Tätergeneration“ ausgestorben ist, die Auseinandersetzung mit Schuld mangels Ansprechpartner und Angeklagten nicht mehr geführt werden kann, bleibt die Frage: Warum?
Warum wählten die 8000 wahlberechtigten Biberacher im März 1933 nicht nur die Nazis überproportional im württembergischen Vergleich, sondern traten der NSDAP auch in erheblicher Zahl bei (knapp 2000), vertrieben die beiden einzigen jüdischen Familien, denunzierten und malträtierten die wenigen, die es wagten, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen?
Die Biberacher Ausstellung zur NS-Geschichte zeichnet nach, holt Vergessenes aus den Archiven, dokumentiert, ordnet ein, und zwingt zur Frage nach dem Warum. Denn die Ausstellung belegt einmal mehr, die NS-Diktatur war kein „Betriebsunfall“ und „die Diktatur kam nicht wie eine Naturkatastrophe über die Stadt“, stellt Brunecker bereits in seiner Einleitung fest, „Biberach wirkte aktiv mit“. Und es waren eben nicht nur die Proleten der SA, die es natürlich auch gab, es war auch nicht alleine die soziale Unterschicht, es war vor allen Dingen das gut situierte Bürgertum der Stadt, das der Diktatur die Hand reichte, sie förderte und unterstützte. Im Kapitel zur „Neubildung des Gemeinderats“ nach der Reichstagswahl im März 1933 heißt es unmissverständlich: „die NSDAP-Abgeordneten (waren) keine sozialen Außenseiter, keine Arbeitslosen oder Proletarier, sondern stammten mitten aus dem Bürgertum mit einem renommierten Arzt an der Spitze. Hier fand kein Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung statt. Über die gesamte NS-Zeit bis 1945 berieten etablierte Kaufleute, Handwerker, Angestellte oder Beamte über die Geschicke der Stadt.“ (S. 24)
Auch die braune Revolution war eine bürgerliche Revolution. Denn ohne die bürgerlichen Eliten in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Militär und Politik wäre Hitler gescheitert. Die obszöne nationalsozialistische Rassenlehre und –hygiene entstammten etablierter wissenschaftlicher Forschung, und es waren Ärzte, die sie befürworteten und umsetzten.
In der Ausstellung findet sich dazu ein drastisches Beispiel, zu dem Brunecker ausführt: „Einer der Biberacher Haupttäter (…) ist der angesehene Arzt Dr. Fritz Schroedter, der schon 1930 in die NSDAP eintritt, 1933 Fraktionsführer im Gemeinderat wird und 1935 Leiter des Gesundheitsamtes. Hier ordnet er hundertfach Zwangssterilisierungen an und lässt mindestens 40 Behinderte ins Samariterstift Grafeneck verlegen, wo sie vergast werden. Ab 1949 darf er wieder praktizieren. Man möchte sich darüber empören, ebenso wie über die insgesamt ganz unzulängliche Entnazifizierung, doch irritierender noch ist die tiefergehende Frage, wie dieser beliebte Biberacher Mitbürger zu derart menschenverachtenden Handlungen gelangte. Zweifellos war er ein überzeugter Nationalsozialist, aber kein verbissener Fanatiker. Er war ein stadtweit bekannter Arzt mit gewinnendem, fast vornehmen Auftreten (so wird es vielfach bestätigt) und ist zugleich Rassist und Anhänger der verbrecherischen Euthanasie.“

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Die „gute Stube“ Biberachs am Oberschwabentag. Form und Uniform vom Kirchturm aus betrachtet. Die historischen Fotos wurden speziell für die Ausstellung nachkoloriert.

Der geistige Nährboden war lange vor Hitlers Machtergreifung gelegt worden. Das zeigt sich auch in der Person des Kunstprofessors Ludwig Fahrenkrog (1867-1952), der nach seiner Emeritierung 1931 nach Biberach zog. Bereits 1913 hatte Fahrenkrog die arisch und antisemitisch ausgerichtete „Germanische Glaubens-Gemeinschaft“ gegründet und wurde folgerichtig bei seiner Ausstellung anlässlich seines 70. Geburtstages vom NS-Kreisleiter „zu einem Wegbereiter des Dritten Reiches“ geadelt (S. 138). Fahrenkrog, der mit schwülstigen Bildern die Blut-und-Boden-Mythologie der Nazis künstlerisch überhöhte, wurde aber nie Parteimitglied. Im Gegensatz zu Jakob Bräckle (1897-1987), dessen schlichte bäuerlichen Motive dem Geschmack der Nazis zunächst entsprachen, aber ihnen seit 1937 als nicht mehr ausreichend massenwirksam erschienen. Bräckle wurde 1938 NSDAP-Mitglied. (S. 142) Auch darauf weisen die Ausstellungsmacher hin. Ein Stolperstein, der danach fragen lässt, welche Aussagekraft zur Gesinnung die Parteimitgliedschaft alleine hat.
Vielleicht nicht allzu viel. Doch man war gewollt ein Rädchen im Getriebe, das mit Fortdauer seines Funktionierens immer unmenschlicher wurde. Das zu erkennen, war nicht zuerst eine Frage – Was konnte man wissen? –, sondern eine Frage: Was wollte man wissen? Natürlich wusste man, dass die beiden einzigen jüdischen Familien in Biberach bereits Mitte der 30-er Jahre vertrieben wurden und das Biberacher Tagblatt am 16. März 1937 jubelte „Biberacher Märkte judenfrei!“. (S. 84) Und es ist mit Sicherheit keinem Erwachsenen in Biberach entgangen, dass am 9. November in Buchau und Laupheim die Synagogen brannten, schließlich kam die SA bis aus Ochsenhausen angereist, um in Buchau Brand zu stiften. (S. 230) Es ist undenkbar, dass in einer überschaubaren Welt mit vielfachen verwandtschaftlichen Beziehungen die Verbrechen vor der Haustür, in der Nachbarschaft unbemerkt geblieben sind. Sie geschahen auch nicht im Verborgenen. Und sie fanden Akzeptanz und reibungslose Abwicklung, wenn es um Ausgegrenzte, um sozial Schwache, um Kranke und Behinderte ging. (S. 72ff.) Der christliche Gott der Nächstenliebe hatte auch im katholischen Oberschwaben keine Wirkungskraft mehr.
Das dauerte fort, bis der letzte Schuss verhallt war. Nach dem Luftangriff am 12. April 1945, bei dem über 50 Biberacher den Tod fanden, wurden zu Aufräumarbeiten „jüdische KZ-Häftlinge eingesetzt, die seit Februar 1945 von SS-Wachmännern in einem Zug auf einem Nebengleis beim Bahnhof Warthausen gefangen gehalten wurden. Die ausgehungerten Häftlinge wurden in Gruppen zum Arbeitseinsatz nach Biberach geführt. (...) Als die französischen Truppen näher rückten, suchten die SS-Männer das Weite und ließen die Häftlinge zurück. Für den herrenlosen Zug wollte nun niemand auf deutscher Seite mehr verantwortlich sein oder zur Verantwortung gezogen werden. Der Bürgermeister von Warthausen hielt es für das Beste, wenn er weggefahren würde. Der Zug kam bis nach Aulendorf. Der dortige Bahnhofsvorstand war über das Elend der menschlichen Fracht in seinem Zuständigkeitsbereich wenig erfreut und machte seinem Kollegen in Warthausen Vorwürfe, ‚dass er ihm den Zug zugeschoben hätte’.“ (S. 235 f.) Die französischen Befreier sollen den abgeschobenen Zug mit seinem menschlichen Elend schließlich in Schussenried vorgefunden haben. Infamie bis zuletzt.
„Gegen das Vergessen hilft nur Wissen“, weiß man, und die ständig bohrende Frage, unter welchen Umständen man selbst bereit wäre, sein moralisches Gewissen zu opfern. Und die Versuchung fängt im Alltäglichen an sowie bei der Frage: Was will ich wissen und was will ich nicht wissen? Es ist schließlich die Ignoranz, die uns an den Abgrund führt. Und damit sind wir in der Gegenwart.

Autor: Roland Reck

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