Ravenburg - Zehn Jahre Kunstmuseum Ravensburg. Ein kulturelles Juwel feiert runden Geburtstag und verdient seine Würdigung.
Beginnend mit einem Rückblick: In vielen deutschen Städten wurde nach 1945 mehr historische Architektur zerstört als im Krieg. Es entstanden Einkaufszentren wie in Friedrichshafen, Ulm, Stuttgart oder Mannheim. In Süddeutschland blieben Kleinstädte wie Überlingen, Konstanz, Tübingen oder Ravensburg von Bombardierungen verschont. Der historische Kern wurde über die Jahre behutsam saniert, touristisch attraktiv, ein wenig aus der Zeit gefallen, aber auch mit dem idyllischen Touch der Romantischen Straße. Der Mut zu Kontrasten mit architektonischer Avantgarde, wie in Vorarlberg, fehlte, die Moderne kam über den C&A-Beton nicht hinaus. In Ravensburg wagte die Politik, zusammen mit Architekten und Bauträgern, bislang zwei architektonische Neuerungen, die weit über die Stadt hinaus Aufsehen erregten und ausgezeichnet wurden.
Im Jahr 1950 veranlasste der damalige Oberbürgermeister Dr. Albert Sauer, zugleich Kultusminister von Württemberg-Hohenzollern, eine Ausschreibung für den Neubau der Neuwiesen-Schule in der Südstadt. Das junge Architekten-Paar Hans Riempp ( 1921) und Maria Riempp ( 1922) gewann ihn. Sie waren geprägt durch das Bauhaus der 20er Jahre in seiner Klarheit und Leichtigkeit, sie legten großen Wert auf Kunst am Bau und Kunst im Bau. In ihrer Architektur sollten Kinder Würde haben und nicht, wie Hans Riempp es formulierte, durch die Gewalt der alten Schularchitektur „klein gemacht werden“. Ihre Architektur war inspiriert durch die von den Nazis unterdrückte Reformpädagogik eines Jean Piaget oder Janusz Korczak. „Sie schufen ein kleines Paradies“, sagte der frühere Rektor Pasqualino Mauta. Architekten aus ganz Europa besuchten die Neuwiesen-Schule.
Besondere Architektur schafft besondere Atmosphäre.
Mehr als 60 Jahre später, im März 2013, wird der zweite architektonische Blickfang eröffnet – das Kunstmuseum in der historischen Oberstadt. Bereits für den Entwurf erhält das Stuttgarter Architekturbüro von Prof. Arno Lederer, Jórunn Ragnarsdóttir und Marc Oei den mit 30.000 Euro dotierten Deutschen Architekturpreis 2013. „Erst kommt die Stadt, dann das Haus“, ist ein Statement zur Philosophie der Stuttgarter Architekten, das sich auch im Kunstmuseum widerspiegelt. Die Hülle des archaisch wirkenden Gebäudes, eine abstrahierte Annäherung an die mittelalterliche Dominanz und Klarheit der gotischen St. Jodok Kirche in der Unterstadt und an die gotische, heute Evangelische Stadtkirche, die Hülle besteht aus sandfarbenen, recycelten Altziegeln aus dem Abbruch einer mittelalterlichen Klosteranlage. Nicht nur ein historischer Bezug zur ehemaligen Freien Reichsstadt, nicht nur eine Geste des Respekts vor alten Bauformen, sondern auch ein zeitgemäßer ökologischer Akt. Der zentrale Teil des Museums hat keine Öffnungen und wird, nicht unähnlich vielen mittelalterlichen wie orientalischen Gebäuden, zum Schutz des Inneren – der fragilen Kunst. Doch da ist eine zweite architektonische Annäherung an die Geschichte der Stadt – die ebenfalls dezenten barockalen Rundungen des Tonnen-Daches, die sich im Inneren, im obersten Ausstellungsraum fortsetzen.
Weltweit das erste zertifizierte Passivhaus-Museum
Für das Bad Saulgauer Bauunternehmen Georg Reisch als Bauherr (von dem die Stadt das Museum mietet!), war die Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Architekturbüro ein außergewöhnliches Experiment. Die enorme Menge recycelter Ziegel ist nur eines von vielen Elementen der Nachhaltigkeit, die den gesamten Bau durchdringt: das Dach ist in fünf Lagen mit Steinwolle abgedichtet, die Dächer über den Treppenräumen sind begrünt, Geothermie macht das Haus autark, an ihr hängen „Wasserschlangen“, die im Sommer kühlen, im Winter heizen; die Wärmeabstrahlung der Besucher (in zehn Jahren immerhin über 200.000) wird genutzt , um nur einige Techniken zur Energieeinsparung zu nennen. Die Nachhaltigkeit korrespondiert mit der Schnörkellosigkeit, mit der Distanziertheit der architektonischen Formen und Strukturen der Ausstellungs-Geschosse.
Auch von außen betrachtet, ist das Museum ein Kunstwerk.
Die Sammlung Selinka als Grundlage des Kunstmuseum
2011, bereits während der Bauphase, wird Dr. Nicole Fritz Gründungsdirektorin, im März 2013 eröffnet sie kein leeres Haus. Der Ravensburger Werbegrafiker Peter Selinka übergibt mit seiner Frau Gudrun deren umfassende Kunstsammlung mit 230 Arbeiten des Expressionismus, die den Umfang des Buchheim Museums in Bernried am Starnberger See bei weitem übertrifft. Zu der über vier Jahrzehnte zusammen getragenen Sammlung zählen Werke von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel oder Otto Mueller und Max Pechstein, Zeichnungen und Druckgrafiken der Künstlergruppe Brücke um 1910/11, aber auch Künstler aus der Münchener Gruppe Blauer Reiter, wie Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky und Wassily Kandinsky.
In der Sammlung vertreten sind auch die 1948 in Paris gegründete Künstlergruppe CoBrA, deren Mitglieder aus Copenhagen, Brüssel und Amsterdam kamen, und die Künstlergruppe SPUR. Zu ihnen gehören Asger Jorn, Pierre Alechinsky oder Karl Appel. Sie verband viel mit dem Expressionismus, .den sie, ein wenig vereinfachend ausgedrückt, mit Elementen von Volkskunst anreicherten, mit stärkeren abstrakten Formen, mit oft auch mehr Wildheit und Sinnlichkeit.
Diese drei Kunstrichtungen in Einzel- und in Gruppenausstellungen, die weit über Ravensburg hinaus breites Interesse finden, vorzustellen, ist ein Schwerpunkt der mehr als 30 Ausstellungen von Nicole Fritz, unter ihnen Karl Schmidt-Rotluff, Emil Nolde, Max Pechstein und Otto Mueller.
Wundervolle Kontraste dazu bildeten Künstler der zeitgenössischen Moderne und neue Medien: die Fotografien des 1934 in Ravensburg geborenen Guido Mangold, mit John F. Kennedy; oder die wie aus den Moden der Zeit genommenen, „entschlackten“, in Holz gehauenen Männer und Frauen von Stephan Balkenhol; ein Handyfilmprojekt von Uta Weyrich und va Paulitsch und „We love Animals“ – 400 Jahre Tier und Mensch in der Kunst. Unter Nicole Fritz wurde das Kunstmuseum von der deutschen Sektion des Internationalen Kritikerverbandes (AICA) 2015 mit dem Preis Museum des Jahres ausgezeichnet.
Ende 2017 ging Nicole Fritz als Direktorin der Kunsthalle nach Tübingen. Zum 1. März 2018 übernahm Ute Stuffer, die vom Kunstverein Hannover kam, die Leitung des Ravensburger Hauses. Auch ihr gelingt der faszinierende Wechsel zwischen unbekannten Aspekten der Sammlung Selinka, zwischen Expressionismus – eine Ausstellung zum Dadaismus und Surrealismus von Max Ernst, jüngst zu dem „wilden“ Expressionisten Carl Lohse - und der frühen Avantgarde der Moderne. Da sah man die rebellische Malerei in „The Ultimate Kiss“ der 1939 geborenen Jacqueline de Jong; oder die Sound-Lichtinstallationen des 1977 in Nigeria geborenen Emeka Ogboh. Und bis 25. Juni kann man in der Ausstellung „Von Angesicht zu Angesicht“ sich zwischen zwei privaten Kunstsammlungen hin und her bewegen – zwischen den Gemälden und Grafiken der Künstlergruppe Brücke aus der Sammlung Selinka und weiteren Arbeiten der Klassischen Moderne aus einer Privatsammlung, aus der seit 2022 dem Kunstmuseum Leihgaben zur Verfügung stehen.
Die Entscheidung der Stadt Ravensburg mit ihren Oberbürgermeistern Vogler und Rapp sowie des Gemeinderats für das Kunstmuseum war ein großer Wurf. Wir dürfen auf die nächsten zehn Jahre gespannt sein.
www.kunstmuseum-ravensburg.de
Jubiläumsprogramm
Vom 3. bis 5. März 2023 feiert das Kunstmuseum Ravensburg sein 10-jähriges Jubiläum mit großem Rahmenprogramm.
Freitagabend, 19 Uhr: Jubiläumsabend mit Gästen
aus der Politik und der Kunst
Samstag ab 11 Uhr: Buntes Programm, freier Eintritt
Samstagabend, 19 Uhr: Theater- und Musikaufführungen, freier Eintritt
Sonntag von 11 bis 18 Uhr: Buntes Familienprogramm
Autor: Wolfram Frommlet