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Bad Buchau - Es ist früher Morgen. Hinter Seekirch, Tiefenbach und Oggelshausen färbt sich der Himmel leuchtend rot. Es ist der Übergang zwischen alter Nacht und jungem Tag. Es ist die Zeit der Vögel, die mit ihrem vielstimmigen Gesang den kommenden Tag lobpreisen. Über den Moorwiesen und dem See liegt ein weißer Schleier, der erst langsam den Blick frei gibt auf ein einzigartiges Refugium. Das Naturschutzgebiet Federsee ist das Lebenswerk von Jost Einstein, der vor 33 Jahren das Naturschutzzentrum in Bad Buchau gründete und vor kurzem die Leitung an seine Nachfolgerin Katrin Fritzsch übergab. Ein Spaziergang durch ein außergewöhnliches Berufsleben.

Treffpunkt Steg. Die Wohnmobilisten auf dem Parkplatz schlafen noch. Jost Einstein fährt mit dem Fahrrad vor, ausgerüstet mit dem wichtigsten Arbeitsinstrument eines Vogelkundlers: das Fernglas. Auf dem Holzsteg, eineinhalb Kilometer lang und der einzige Zugang zum See, hüpfend aufgeregt ein Blaukelchen, das sich von den Frühaufstehern sichtlich gestört fühlt und schließlich ins nahe Schilf entfleucht. Die Riedwiesen rechts leuchten weißlich. Mädesüß, eine Heilpflanze, die schmerzlindernd wirkt, erklärt der 66-Jährige und mutmaßt, dass der Name vom germanischen Honigwein Met stammt, dem die Blüten beigemischt wurden. Praktisch: Unsere Vorfahren haben also mit ihrem Gesöff gleich noch das Mittel gegen die Kopfschmerzen zu sich genommen.

Den ersten Siedlern am See ist das Federseemuseum gewidmet, das sich ebenfalls am Zugang zum Steg findet. Die dokumentierte Zeit reicht bis 5000 Jahre vor Christus zurück. In Pfahlbauten wohnend lebten unsere Urahnen hauptsächlich von Jagd und Fischerei. Damals war der See freilich noch sehr viel größer. Er ist eine Hinterlassenschaft der letzten Eiszeit und bildete sich vor rund 15.000 Jahren. Von seiner ursprünglichen Größe (30 Quadratkilometer) sind heute noch 1,4 Quadratkilometer Wasserfläche übrig. Der starke Schwund ist der natürlichen Verlandung, aber viel mehr noch der menschlichen Eingriffe durch Entwässerung geschuldet.

 

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Früher Morgen am Anfang des hölzernen Stegs, der 1,5 Kilometer durch das Ried bis zum See führt und der einzige Zugang dorthin ist. Foto: Reck

 

Der Trockenlegung folgte der Torfabbau in großem Stil. Als 1850 die Bahnstation Schussenried gebaut und der Torf besser abtransportiert werden konnte, begann die planvolle Entwässerung des Federseemoores. Die württembergische Staatseisenbahn (Ulm – Friedrichshafen) wurde mit Federsee-Torf befeuert! Noch bis 1970 wurde rund um den See der Energieträger Torf abgebaut. Das ging nicht nur zu Lasten der ursprünglichen Natur, sondern gefährdete auch die archäologischen Kostbarkeiten, die unter Luftabschluss Jahrtausende im Moor überdauerten und Aufschluss gaben, über das Leben unserer prähistorischen Vorfahren. Trocken gelegt, verrotteten die historischen Zeugnisse. Dem wurde Einhalt geboten, indem mit viel Geld aus der EU die Wiedervernässung des Rieds erfolgte.

Jost Einstein ist 1954 in Bad Buchau mit einem dominanten Naturgen auf die Welt gekommen. Schon als Kind und Schüler war er eifriger Naturbeobachter und verbrachte viel Zeit als Vogelkundler am See. Und als solcher musste der Jüngling miterleben, wie sein Paradies am Wohlstand fast zugrunde ging. Die Kanalisation lief in den See und mit der Kloake auch das viele Phosphat aus den heiß begehrten Wirtschaftswunder-Waschmaschinen. Das brachte den See in den 60er Jahren fast um und das Leiden an der Vergiftung dauerte bis Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert, erinnert sich Jost Einstein mit Grausen. Noch 2008 kam es zu einem rätselhaften Fischsterben, dessen Ursachen ungeklärt blieb, obwohl seit Anfang der 80er Jahre die Stadt und die seenahen Ortschaften ihr Abwasser klärten, statt es im See zu entsorgen. Erst vor zehn Jahren hatte das Biotop seine schwerste Krise überwunden. Aber trotz des Happy Ends ist es für den Naturschützer Mahnung, wie schnell ein Ökosystem ruiniert werden kann und wie lange es dauert, bis es sich wieder erholt.

 

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Morgenstimmung am Federsee mit Schwan. Foto: Reck

 

1987 war es soweit. Die Naturschutzorganisation NABU, deren Vorgängerorganisation bereits seit 1911 am Federsee aktiv war, gründete das Naturschutzzentrum und war fortan vom Land beauftragt, sich der Naturoase anzunehmen. Der Gründer war auch Leiter für die kommenden 33 Jahre. Jost Einstein, der inzwischen Landschaftspflege studiert und als Landschaftsarchitekt gearbeitet hatte und unermüdlich ehrenamtlich seinen Heimatsee und dessen Natur umsorgte, war in seinem Traumberuf angekommen. 2017 wurde das Naturschutzzentrum 30 Jahre alt und BLIX fragte seinen Leiter nach dessen „Erfolgsgeschichte“. Darunter fällt auch, erklärte Einstein, dass „entgegen dem bei vielen Pflanzen und Tieren festzustellenden großräumigen Trend der Bestandsabnahme sich viele Arten am Federsee nicht nur halten, sondern sogar zulegen konnten“. Und wenn der Ökologe ganz bescheiden anmerkt, dass „neue Naturschutzgebiete ausgewiesen werden konnten“, dann versteckt sich dahinter die Tatsache, dass der Naturschutzmanager es geschafft hat, das Schutzgebiet um rund 1000 Hektar auf heute 2350 Hektar zu vergrößern. Insgesamt, so heißt es in der Selbstbeschreibung, ist „das Federseemoor mit 33 Quadratkilometern das größte Moor Südwestdeutschlands. Es ist Lebensraum für eine einzigartige Tier- und Pflanzenwelt. Manche Arten haben hier ihr wichtigstes Vorkommen in Baden-Württemberg“.

Zum Beispiel das Braunkelchen. Ein kleiner Piepmatz, der im Südwesten fast schon ausgestorben war und dessen Population zur Hälfte am Federsee beheimatet ist. Und die Rohrweihe, die vom Steg aus sichtbar mit Nistmaterial ins Schilf eintaucht, und die Flußseeschwalbe, die pfeilschnell über die Wasseroberfläche gleitet ebenso wie die fast unsichtbare Zwergrohrdommel, die just zum 30. Geburtstag des Naturschutzzentrums 2017 erstmals wieder am Federsee brütete, erzählt der Vogelvater stolz. Aber es sind niemals nur die auffallenden Tiere, die ein Ökosystem funktionsfähig halten, sondern auch die Kleinlebewesen wie Insekten und natürlich die Pflanzen, auch von denen schwärmt der Naturschützer, wie wenn er von seinen Kindern sprechen würde: „Auch Schmetterlinge wie das Wald-Wiesenvögelchen oder Orchideen wie das Fleischfarbene Knabenkraut gehören dazu, auch Wasserpflanzen, wie das Pfeilkraut und der Froschbiss sind wieder neu aufgetaucht, nachdem sich der Federsee wieder erholt hat.“ Es sind nur ein paar wenige Beispiele, zu denen auch die jüngste Entdeckung gehört: der Dünen-Blattkäfer (Chrysomela collaris) war seit 1973 in Baden-Württemberg nicht mehr gesehen, nun ist er wieder am Federsee zu finden.

Der Mann, der von sich behauptet: „Ich komme aus der Ornithologie – ich sehe die Welt in gewissem Sinne aus dem Blick eines Vogels“, hat sich diesen über Jahrzehnte antrainiert. 45 Jahre lang hat Jost Einstein von September bis April wöchentlich vom Ende des Steges die Vögel auf dem See nicht nur beobachtet, sondern auch akribisch gezählt. Das ist Wissenschaft, die darauf beruht, dass sich jemand diese Mühe macht. Und dem Ökologen gab die Vögelzählerei unmittelbaren Aufschluss über den Zustand und die Veränderung des gesamten Ökosystems vor Ort und weit darüber hinaus, wenn zum Beispiel sich neue Wintergäste oder auch mehr oder weniger Durchzugsgäste einstellten.

Keine Frage: Jost Einsteins Berufsleben ist imponierend, und das, obwohl – nein, weil er es ganz und gar seiner kindlichen Liebe, seiner Heimat gewidmet hat. Davon profitiert sein Heimatort immens, der mit dem Aushängeschild „Naturschutzgebiet und Vogelparadies Federsee“ auf mindestens 100.000 Besucher jährlich zählen kann, die dem Verlangen nach Natur und Gesundheit folgen und dafür Geld ausgeben.

Doch trotz aller Heimatliebe – von einer Käseglocke hält der Buchauer nichts. Als Ökologe ist sein Blick weit, er denkt vernetzt und als Zeitzeuge kritisch. Angesprochen auf die Diskrepanz zwischen seinem lokalen Erfolg und dem globalen Misserfolg beim Natur- und Artenschutz, erklärte Einstein im Interview mit BLIX vor drei Jahren: „Es ist richtig: Das Gros der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten nimmt ab und die Roten Listen der bedrohten Arten werden immer länger. Dem müssen wir entschieden entgegentreten. (…) In erster Linie müssen wir bei uns die Intensität der Landnutzung deutlich zurückfahren. Warum müssen wir im dicht besiedelten Europa unter industriellen Bedingungen Milch, Fleisch und Getreide für den Export nach Russland, Asien oder Afrika produzieren und dabei unsere Böden, unser Grundwasser und unsere Artenvielfalt ruinieren? Die völlig fehlgesteuerte Landwirtschaftspolitik kostet den Steuerzahler Milliarden, den Bauern geht es trotzdem nicht gut und wir behindern oder zerstören sogar die Landwirtschaft in den Importländern.“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Doch „in Fatalismus verfallen, wäre falsch“, erklärt der Naturschützer mit Blick über den morgendlichen See, dessen Harmonie die Seele streichelt. Und mit dem Rücken zum „Buchauer Damenstift“, dessen Mauern in der Morgensonne rosa schimmern, holt sich Jost Einstein Mut und Trost bei Martin Luther und seinem Apfelbaum. „Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.“

 

Heimisch am Federsee:

Rohrweihe

Rohrweihe

Dünen Blattkäfer Chrysomela collaris auf der Knospe einer Kriechweide Bildquelle Lothar Brümmer

Dünen-Blattkäfer

Froschbiss

Froschbiss

Braunkehlchen

Braunkehlchen 

Fotos: Jost Einstein

 

Autor: Roland Reck

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