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Wain - Es war die Nacht zum 1. Mai. Es ist die Nacht der Streiche und des Humbugs. Auch getanzt wird in den Mai. Es ist die Walpurgisnacht, in der die Hexen ihr Unwesen treiben. Schaurig der Aberglaube, schön das Brauchtum. Aber in diesem Jahr fiel der fröhliche Umtrieb einem Virus zum Opfer. Der Tanz fiel aus. Auch in Wain. Doch der Aberglaube feierte böse Urstände. Auf dem „Galgenberg“ des kleinen Ortes östlich von Laupheim fanden sich drei Hexen. Strohpuppen, die hingerichtet wurden. Kein Scherz, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Und ein Dorf ist in Schockstarre. Was ist passiert? Und vor allen Dingen: Warum ist es passiert?

Das Was, der Tatbestand, ist freilich aktenkundig: Am 1. Mai fanden sich drei lebensgroße Strohpuppen, wie sie immer noch manch Funkenkreuz schmücken, auf dem Reinhardsberg, der auch Galgenberg heißt, zu einer Hinrichtungsszene drapiert. Zwei der Frauenpuppen scheinen auf einem rot beschmierten Holzpflock enthauptet, die andere stranguliert. Auf einem Schild stand zu lesen: „3 Hexen von Wain“.

Gemeint waren drei Gemeinderätinnen, die daraufhin entsetzt von ihrem Amt zurücktraten. Es war das Ende einer bemerkenswerten Konstellation. Denn in dem kleinen Ort mit rund 1600 Einwohnern, zwischen Dietenheim an der Iller und Schwendi gelegen, waren vier Frauen im zehnköpfigen Gemeinderat, es gab eine Stellvertreterin des Bürgermeisters, und die meisten Stimmen hatte bei der letzten Kommunalwahl 2019 wie schon bei der Wahl davor Juliane Freifrau von Hermann, „die Baronin“, erhalten. Die Adlige war Stimmenkönigin und bis zur letzten Wahl auch stellvertretende Bürgermeisterin. Wain hatte Frauenpower.

Überhaupt ist in dem Ort manches bemerkenswert. Auffallend: Der Ort ist eine evangelische Enklave im katholischen Oberland. Das ist zum einen dem Jahrhunderte langen Geschachere der Grundherren geschuldet und schließlich den Schulden der Benediktiner in Ochsenhausen, die deshalb notgedrungen den Sprengel nach Ulm verkauften, wo er 1571 in den Besitz der Stadt gelangte und von nun an reformiert war. Zum anderen wurde das evangelische Wain 1650 zum Fluchtort von vielen Exulanten (Verbannten) aus Kärnten und der Steiermark, welche aus Glaubensgründen ihr Land verlassen mussten. In der Kurzchronik der Gemeinde heißt es weiter: „Infolge Finanznot musste die Stadt Ulm auch ihr Besitztum Wain im Jahre 1771 veräußern. Um 500.000 Gulden erwarb Freiherr Benedikt von Herman, Bankier in Venedig, geboren zu Memmingen, den Ort mit allen Gütern, Gülten und Gerechtigkeiten. Das besonders schön in der Ortsmitte gelegene Schloß zeugt heute noch von dem Besitztumswechsel.“ Und wichtig: „Bei der Gemeindereform 1973 konnte Wain seine Selbständigkeit erhalten.“ Das könnte der Religion zu verdanken gewesen sein. Fest steht: Wain blieb für sich. Und hat auch weiterhin eine „Herrschaft“, deren Schlösschen die Ortsmitte markiert und die mit dem Golfplatz zwar ein nobles Statement platzierte, aber sich um Integration bemühte, was mit der wiederholten Wahl der Baronin als Stimmenkönigin zählbare Anerkennung fand.

 

Historische Aufnahme

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Der Tatort: Die historische Zeichnung aus der Dorfchronik zeigt eine Hinrichtung auf dem Galgenberg; unten der Reinhardsberg, wo man die „hingerichteten Hexen“ am 1. Mai diesen Jahres fand.

 

Warum also dieser Hassausbruch, der in seiner Symbolik blutrünstiger nicht sein könnte? Und der sich einfügt in die grassierenden Hassattacken vielerorts, insbesondere gegen engagierte Frauen und dabei dumpfe rechte Gesinnung offenbart. Allemal Angst einflößend. In einem Dorf, in dem elf Vereine und eine starke Kirchengemeinde aktiv sind, und in dem noch fast jeder jeden kennt, wird die Frage nach dem Warum nur bruchstückhaft beantwortet – von denen immerhin, die die Frage überhaupt zulassen. Andere folgen dem altbekannten Reflex: schweigen statt nach Antworten zu suchen. So soll Ruhe einkehren.

Aber nichts kommt aus dem Höllenschlund, alles ist irdischen Ursprungs und hat seine Geschichte. Und zu der zählen im Tal der Weihung auf jeden Fall die Kommunalwahlen im Mai letzten Jahres. Der starken Wahlbeteiligung von 70,6 Prozent folgte eine Zäsur. Statt zwei Wählerlisten waren drei angetreten und in Folge verlor die Liste „Für die Wainer Bürger“ (4 Sitze) mit der Baronin an der Spitze ihre Dominanz im neu gewählten Rat. Mehr noch, die beiden anderen Listen „Aktiv für Wain“ (4 Sitze) und „Pro Wain“ (2 Sitze) verhinderten bei der konstituierenden Sitzung zweierlei: Die Freifrau wurde nicht mehr wie noch zuvor zur Stellvertreterin des Bürgermeisters gewählt und ihre Mitstreiterin Lotte Obrist, immerhin bei ihrer ersten Kandidatur gleich mit dem drittbesten Wahlergebnis ausgestattet, wurde in keinen Ausschuss gewählt. Das waren zwei öffentliche demokratische Ohrfeigen, die sehr schmerzten. Offenbar so sehr, dass von nun an die Obstruktion im Gemeinderat herrschte.

Der Stachel saß tief und wurde noch tiefer ins Fleisch gedrückt, als das Gerücht die Runde machte, dass Lotte Obrist die Wahlen manipuliert hätte. Der Bürgermeister ließ es prüfen und der Vorwurf wurde als falsch verworfen, aber das Gift wirkte. Nichts ging mehr, klagten Bürgermeister und der übrige Gemeinderat, während sich die vier „Für die Wainer Bürger“ bei der Dienstaufsichtsbehörde im Biberacher Landratsamt Beratung und vermutlich auch Unterstützung suchten. Vergeblich, umso empörter reagierte der Rest des Gremiums über diese „Dienstaufsichtsbeschwerde“, die angeblich gar keine sein sollte. Schon unter Corona-Gefahr fand dazu unter großem Besucherandrang eine Gemeinderatssitzung statt, die mit Plädoyers und Standing Ovation für den Bürgermeister endete. Die vier waren isoliert und düpiert.

Stephan MantzDa hätte vielleicht eine Klausur geholfen, die der Bürgermeister wollte und die bereits auf der Agenda stand, aber wegen angeblicher Intransparenz von der Baronin und ihrem Gefolge vehement abgelehnt wurde. Man könnte vermuten, dass im Wainer Rathaus ein kaschierter Glaubenskrieg ausgefochten wurde. Aber nein, Stephan Mantz (Foto), der Bürgermeister, ist so evangelisch wie die große Mehrheit im Ort. Der 40-Jährige kam vor fünf Jahren mit großem Zuspruch ins Amt, nachdem sein Vorgänger sich in den Ruhestand verabschiedet hatte. Der Verwaltungsmann hat was vorzuweisen. Neben seiner Laufbahn bis zum Amtsleiter für Liegenschaften und Wirtschaftsförderung in Biberach absolvierte der gebürtige Laupheimer auch noch den Master zum Bauingenieur. Die Wainer wissen wohl um die Qualitäten ihres Schultes und attestieren ihm viel Fleiß und Findigkeit bei der Mittelbeschaffung, was sich im Haushalt wiederfindet.

Völlig ratlos wirkt er hingegen bei der Frage, wie er sich dieses tiefe Zerwürfnis im Gemeinderat und in seiner Gemeinde erklärt. Woher kommt dieser plötzlich ausbrechende Hass? Er weiß es nicht. Und welche Rolle spielt er dabei? Eine gesprächsbereite, wie er immer wieder betont. Er habe alles versucht, um mit den drei Frauen ins Gespräch zu kommen. Ebenso der Gemeinderat. Vergeblich. Auch ein moderiertes Gespräch mit Pfarrer Ernst Eyrich sei nicht zustande gekommen.

 

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Das Rathaus findet sich in der Nachbarschaft der Kirche.

 

Das Pfarrhaus findet sich einen Steinwurf schräg gegenüber vom Rathaus. Die Wege sind so kurz wie der Ort groß. Aber leider ist der Pfarrer nicht gesprächsbereit. „Ich halte mich zurück, ich werde dazu nichts sagen“, erklärt Ernst Eyrich am Telefon. Und zur Erklärung: „Seelsorge spielt sich nicht öffentlich ab.“ Dabei bestätigt der Seelsorger: „Die Dinge sind ja nicht erst jetzt passiert.“ Jetzt, so sagt er, seien sie „explodiert“. Und: „Es ist noch nicht zu Ende.“ Er muss es wissen, denn er ist seit 35 Jahren Pfarrer an diesem besonderen Ort. Was er denn tue? Er mahne in seinen Predigten „immer wieder zu Versöhnung und Frieden“, und hoffe darauf, dass es fruchtet.

Und was sagen die drei Betroffenen? Zunächst schweigen sie lange. Dann kommt eine Mail von Juliane Freifrau von Herman mit einem ausführlichen „Medienstatement“ und gleich noch „15 Fragen“ an sich selbst. Sie schließt mit dem „Hinweis“, sie werde „darüber hinaus keine weiteren Interviews geben“. Sie stellt fest: „Warum kritische Fragen im Gemeinderat an den amtierenden Bürgermeister am Ende in Hass, Hetze und Mobbing mündete, dafür gibt es bis heute keine schlüssige Erklärung.“ Das stimmt, aber sie liefert dazu auch keine „schlüssigen“ Antworten. Sie zeigt sich verletzt, was verständlich ist, bestätigt den Hickhack im Gemeinderat und mit dem Bürgermeister, sieht sich dabei aber in der Rolle der legitimierten Kritikerin, die „uneigennützig, engagiert, gewissenhaft und zukunftsorientiert zum Wohle des Ortes“ agiert habe.

Inhaltlich ist ein Thema neu. Die Baronin verweist auf den Dorfentwicklungsplan „Wain 2035“. Es gehe dabei um die grundsätzliche Richtung. „Wie soll sich die Dorfmitte Wains, wie die Wohn- und Gewerbepolitik im Zusammenhang mit der Fortentwicklung des Flächennutzungsplans entwickeln?“ Diese Fragen würden „sehr kontrovers“ in der Bürgerschaft diskutiert und auch die Wahlprogramme hätten sich dabei „deutlich unterschieden“. Die Baronin weiter: „Ein Teil der Bürger möchte an einer ländlichen, ruhigen und lebenswerten Gemeinde festhalten, ein anderer Teil möchte die weitere Entwicklung als Gewerbestandort.“ Okay, den Streit gibt es andernorts auch, aber ohne dass man sich deswegen den Tod an den Hals wünscht?

 

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Schmuck: Der adlige Wohnsitz bildet die Ortsmitte.

 

Die letzte Hinrichtung auf dem Wainer Galgenberg fand am 19. März 1664 statt. Die als Mörderin verurteilte Elisabetha Kellerin wurde dort enthauptet, nachdem ihr zuvor noch die rechte Hand abgeschlagen worden war. Die Geschichte findet sich in der Dorfchronik, die für 15 Euro im Rathaus zu erwerben ist. Der Reinhardsberg ist der Galgenberg, das wussten die Täter, die 356 Jahre später die Hinrichtung der „3 Hexen von Wain“ dort inszenierten.Das löst nicht nur bei den drei gemeinten Frauen Entsetzen aus. Es folgt ein Rundschreiben mit 150 Unterschriften an alle Haushalte, initiiert von einem Kirchengemeinderat, darin heißt es: „Mit der verabscheuungswürdigen Aktion auf dem Reinhardsberg wurden sämtlich rote Linien überschritten. Bei dieser menschenverachtenden Aktion gibt es nichts gut zu reden, sie ist auf das Schärfste zu verurteilen und als nicht akzeptable kriminelle Handlung zu werten. Dieses rechtswidrige Vergehen muss vorbehaltlos aufgeklärt werden. Daran sollte uns allen gelegen sein.“ Und der Bürgermeister erklärt ebenfalls in einem zeitgleichen und eigenen Rundschreiben an alle Bürger: „Der ‚makabre Maischerz‘ wird auch von mir als Bürgermeister auf das schärfste verurteilt, zumal hierbei wohl drei gewählte Gemeinderätinnen betroffen sind und auch getroffen werden sollten.“

Die Freifrau empört sich über dieses Statement und stellt fest, dass „von einer Art ‚Scherz‘ gesprochen wird, ist an Geschmacklosigkeit nicht mehr zu überbieten“. So wird es wohl noch dauern, bis der Appell des Bürgermeisters wahr wird: „Lassen Sie uns alle mit Respekt, Anstand und gegenseitiger Achtung für unsere Gemeinde Wain zusammenwirken.“ Das Warum muss vorher beantwortet werden. „Ich hab‘ ein Bauchgefühl“, sagt der Bürgermeister am Telefon, da sei „ein alter Konflikt von vor 20 Jahren, aber darüber red‘ich nicht“. Stattdessen beteuert Mantz, dass er in Wain seinen „Traumjob“ gefunden habe und auch weiterhin Abwerbungsversuchen von größeren Kommunen widerstehen werde. Er stelle sich in drei Jahren zur Wiederwahl, versichert der Schultes. Das kann sich „die Herrschaft“ im Ort sparen.

 

INFO: 

Die Staatsanwaltschaft in Ravensburg lässt am 22. Juli wissen, dass „momentan ein Ermittlungsverfahren gegen drei Beschuldigte“ geführt werde, als Tatbestand komme sowohl Bedrohung als auch Beleidigung in Betracht. „Die polizeilichen Ermittlungen dauern noch an.“

 

Text und Fotos: Roland Reck

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