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Berlin/Oberschwaben - Es ist vermutlich, wie wenn man von zuhause auszieht und in eine neue Welt aufbricht, aber immer wieder gerne heimkommt. So ist es, wenn man nach Schule und Ausbildung das Elternhaus verlässt, um eigene Wege zu gehen, aber auch gerne zurückkehrt, um Freunde und Familie zu treffen. Und so ähnlich muss es wohl sein, was Heike Engelhardt und Anja Reinalter derzeit erleben als frisch gebackene Abgeordnete in Berlin. Oberschwaben trifft Hauptstadt. Die beiden „Neuen“ sind angekommen und finden es gut. Auch wenn sie noch aus dem Koffer leben.

 

Noch sei vieles Provisorium, aber die Arbeit strukturiere sich und nehme an Fahrt auf, erklären Heike Engelhardt (61), die Neue von der SPD aus Ravensburg, und Anja Reinalter (52), die Neue von den Grünen aus Laupheim. Und von nun an heißt es pendeln. Das Leben von Abgeordneten ist mindestens zweigeteilt. Das eine spielt sich im „Treibhaus“ (Wolfgang Koeppen), unter der Glaskuppel in Berlin ab (bei Koeppen war es noch Bonn), das andere dort, wo man herkommt, im Wahlkreis, wo die Familie und Freunde leben und man von nun an als Bundestagsabgeordnete bei offiziellen Anlässen immer zuerst begrüßt wird. Das Protokoll schafft Bedeutung in der Heimat, während in 21 Sitzungswochen in Berlin sich die öffentliche Aufmerksamkeit nur auf wenige der 736 Abgeordnete konzentriert. Immerhin, Oberschwaben schickt von Ravensburg bis Ulm und von Sigmaringen bis an die Iller vier Frauen und sechs Männer an die Spree. Und die beiden „Neuen“ sind die WahlgewinnerInnen und verstärken neben der CDU-Abgeordneten Ronja Kemmer (32) aus Ulm und der Grünen Agnieszka Brugger (36) aus Ravensburg die oberschwäbische Frauenpower im Deutschen Bundestag, der insgesamt jünger und weiblicher wurde.
Und beide kommen aus der Kommunalpolitik und wissen folglich, wie die Eingeborenen (sorry: die Indigenen) und assimilierten Zugezogenen in diesem wohlhabenden und -anständigen Landstrich ticken. Zur Erinnerung: Berlin ist arm, aber sexy – immer noch! Heike Engelhardt ist Kreisvorsitzende der SPD in Ravensburg, wo sie auch SPD-Fraktionsvorsitzende im Stadtrat ist. Die 61-Jährige ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern, nahm Anlauf zur Lehrerin, aber statt in die Schule ging sie zur Schwäbischen Zeitung, sie ist ausgebildete Journalistin und arbeitete schließlich als Pressesprecherin beim Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg und ist nun ordentliches Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Die Gewerkschafterin ist vielfach ehrenamtlich tätig.
Anja Reinalter hat drei Kinder und Erziehungswissenschaften studiert und war viele Jahre in der Erwachsenenbildung tätig, bevor sie 2020 zur Professorin für soziale Arbeit an der Hochschule Kempten berufen wurde. Sie ist Fraktionsvorsitzende im Laupheimer Gemeinderat und grüne Kreisrätin in Biberach. Bis Ende 2021 war sie Mitglied im grünen Landesvorstand und frauenpolitische Sprecherin des Landesparteirates. Nun ist die 52-Jährige ordentliches Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Überdies wurde sie von ihrer Fraktion zur Parlamentarischen Geschäftsführerin gewählt und ist somit auch Teil des Fraktionsvorstandes, folglich ist die Neue gleich ins Fraktionsmanagement aufgestiegen. „Im Fraktionsvorstand geht es vor allem um die politische und strategische Beratung der Bundestagsfraktion“, erklärt Reinalter nicht ohne Stolz ihre neuen Aufgaben.

 

Anja Reinalter Kuppel Reichstag 02 Quelle privat be

Anja Reinalter (Grüne) aus Laupheim über den Dächern Berlins auf dem Reichstag.

 

Und wie muss man sich den Arbeitsalltag einer Bundestagsabgeordneten vorstellen?

„So ein Tag in Berlin kann von früh um 7 bis in die Nacht um 23 Uhr dauern“, meint Anja Reinalter. Heike Engelhardt: „Es ist unglaublich, wie viel Zeit wir Abgeordneten in Sitzungen und Besprechungen verbringen. In der aktuellen Lage treffen wir uns weitestgehend online. Dadurch hat sich aber die Termindichte nochmal erhöht.“ Hinzu kommen die Außentermine, Reinalter nennt ein Beispiel: „So habe ich mich beispielsweise vor kurzem mit dem ‚Zentralverband Deutsches Baugewerbe‘ über den Fachkräftemangel besprochen.“ Das alles spielt in Berlin und zuhause in Oberschwaben? „Im Wahlkreis besuche ich derzeit viele Bürgermeister*innen, um zu hören, wo der Schuh drückt. Als langjährige Kommunalpolitikerin ist mir das ein besonderes Anliegen. Und ich stelle mich als Gesprächspartnerin bei Unternehmen, Verbänden und Vereinen vor. Ich nehme aber auch sehr gerne an Gesprächsrunden in Schulen und mit Jugendlichen teil und suche das Gespräch mit den Hochschulen.“
„Als Grüne aus dem ländlichen Raum“ ist für Reinalter „sehr wichtig“, dass der ländliche Raum nicht abgehängt wird. Ihr Ziel: „gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land“. Ihre Diagnose: Auf dem Land sei „vor allem die Erreichbarkeit wichtiger Daseinsvorsorgeangebote ein Problem“. „Für nur 43 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind ein Supermarkt, der Arzt, die Post, eine Grundschule oder eine ÖPNV-Haltestelle innerhalb von einem Kilometer erreichbar.“ „Mir ist es wichtig“, sagt Reinalter, „dass die vielen Beiträge der ländlichen Räume für das Gemeinwohl anerkannt und berücksichtigt werden“. Mit anderen Worten: Beim Verteilen des Geldes in Berlin soll der eigene Wahlkreis nicht vergessen werden. Das ist die wichtige Aufgabe von allen Abgeordneten und verbessert die Wahlchancen.
Die Bundestagswahl ist ein knappes halbes Jahr her, am 26. September letzten Jahres wurde gewählt, am 8. Dezember fand die Vereidigung der Ampel-Regierung statt. Ein Novum, das zugleich eine Zäsur darstellt. Nach 16 Jahren Angela Merkel als Kanzlerin gab es zum Jahresende einen Regierungswechsel, dabei ist die Koalition von SPD, Die Grünen und FDP ein politisches Novum. Die Probleme, mit denen sich sowohl die neue Bundesregierung als auch die Frauen und Männer im Bundestag beschäftigen müssen, sind zwar nicht neu, aber stellen in ihrer Dimension ebenfalls eine Zäsur dar. Die Pandemie, die Klimakrise und das Artensterben sind epochale Herausforderungen, deren Bewältigung über unser aller Zukunft entscheidet. Und weil alles mit allem zu tun hat, fällt es schwer, die Dimensionen zu begreifen. Aber verstehen es die PolitikerInnen?

Politik ist die Kunst des Möglichen, heißt es. Reicht das aus, um den Problemen und Herausforderungen gerecht zu werden?

„Die Frage lässt vermuten, dass das ‚Mögliche‘ zu wenig ist“, stellt Anja Reinalter vorsichtig fest. „Wir sollten uns aber bewusst machen – dass wir Menschen Dinge möglich machen. Zukunft passiert nicht, fällt nicht vom Himmel. Wir machen das und müssen sie möglich machen. Und bei dem, was ansteht, werden wir über uns hinauswachsen müssen – um das Bestmögliche und Notwendige für einen besseren Klimaschutz und mehr Gerechtigkeit zu erreichen.“ Eine Konsequenz: Sie fährt Zug und fliegt nicht nach Berlin und zurück.
Gibt es weibliche Politik? Und wenn ja, was zeichnet sie aus und wie unterscheidet sie sich von männlicher Politik?

Reinalter: „Das ist eine gute Frage. Angela Merkel war 16 Jahre lang die erste deutsche Bundeskanzlerin. Aber war die Politik deswegen weiblicher? (…) Ich will, dass Parlamente und politische Gremien gemischter werden, wo sie es noch nicht sind. Die weibliche Perspektive ist in der Politik wichtig, um die Lebenswelt von Frauen und Männern richtig abzubilden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Thema Kinderbetreuung.“
Engelhardt: „Politisches Handeln ist eher eine Typ- denn eine Geschlechterfrage. So wie erfolgreiche Teams sich dadurch auszeichnen, dass unterschiedliche Temperamente und Herangehensweisen Projekte vorantreiben, profitiert auch die Politik, wenn die Akteur*innen eine gewisse Diversität mitbringen. Und zwar in allen Belangen.“

Die Atmosphäre im „Treibhaus“ scheint zu stimmen. Man kümmert sich um die Neuen fraktionsübergreifend. „Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind ganz normale, nette Menschen. Traurig ist allerdings, dass das für eine Fraktion nicht zählt: Die Blaubraunen sind gehässig und aggressiv. Es heißt ja ‚Hass macht hässlich‘ - das kann ich nur bestätigen“, meint Heike Engelhardt. Und Anja Reinalter hat „schnell gelernt: In Berlin wird auch nur mit Wasser gekocht!“

Bundestagsabgeordnete zu sein, ist das Ihr Traumjob?

Reinalter: „Ja, es ist ein Traumjob, aber vor allem ist es eine Ehre, die Bürger*innen aus meiner oberschwäbischen Heimat vertreten zu dürfen.“
Engelhardt: „Zum jetzigen Zeitpunkt: ja!“

Zum guten Schluss: Impfpflicht ja oder nein?

Engelhardt: „Ganz klares Ja! So umfassend und schnell wie möglich.“
Reinalter: „Ich unterstütze den interfraktionellen Gesetzesentwurf „Gesetz zur Aufklärung, Beratung und Impfung aller Volljährigen gegen SARS-CoV-2“.  Dieser Gesetzesentwurf sieht vor, dass die Krankenkassen allen erwachsenen Menschen bis zum 15. Mai 2022 ein Gesprächsangebot über die Gefahren der Covid-19-Erkrankung und die Impfstoffe unterbreiten. Die Impfpflicht soll ab dem 1. Oktober 2022 gelten. Bis dahin können die notwendigen Impfungen vorgenommen werden. Mich überzeugt dieser Gesetzentwurf auch, weil das Gesetz bis zum 31. Dezember 2023 befristet ist.“

 

Autor: Roland Reck

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