Biberach - Es kam einem Paukenschlag gleich. Nach erfolgreicher Premiere im Jahr 2019 sowie gelungener Fortführung im Corona-Krisenjahr 2020 war anzunehmen, dass Helga Reichert, die neue Intendantin der Biberacher Filmfestspiele, nun fest im Sattel sitzt und somit auch das Lebenswerk ihres Ehemanns Adrian Kutter in eine weiterhin erfolgreiche Zukunft führen würde – doch weit gefehlt. Nun melden sich 108 Filmschaffende in einem offenen Brief „mit großer Sorge“ zu Wort.
Der Vertrag der Juristin und Schauspielerin endete am 31. Dezember 2020. Zwar legte ihr der Verein Biberacher Filmfestspiele einen neuen Einjahres(!)vertrag vor, den Reichert aber ablehnte. Grund dafür sind diverse Abweichungen von der bisherigen Arbeitsgrundlage, die darauf schließen lassen, dass es dem Vorstand um Kontrolle und Einflussnahme statt um vertrauensvolle Zusammenarbeit geht. Weiterhin werden von Vereinsseite konzeptionelle Meinungsverschiedenheiten angeführt, dabei geht es in erster Linie um die Entwicklung eines begleitenden ‚Video on Demand‘-Programmes.
Der in Weingarten und Konstanz aufgewachsene Regisseur Douglas Wolfsperger wurde bereits mehrfach bei den Biberacher Filmfestspielen ausgezeichnet und gehört zu den Initiatoren des offenen Briefs. Foto: Joachim Gern
Die Meinungsverschiedenheiten konnte auch der Biberacher Oberbürgermeister Norbert Zeidler als Moderator nicht ausräumen. Und während Helga Reichert gegenüber BLIX zu erkennen gibt, dass sie weiterhin an einer Fortsetzung ihrer Arbeit als künstlerische Leiterin interessiert ist, kündigte der Vorstand an, den Vereinsmitgliedern zur Mitgliederversammlung Ende März eine neue Intendanz vorzustellen. Und während in der Filmbranche über die Vorgänge in Biberach Erstaunen bis Entsetzen herrschen, erklärte der Oberbürgermeister Norbert Zeidler, 2. Vorsitzender des Vereins Biberacher Filmfestspiele, noch im Interview mit BLIX: „Mir ist bislang keine entsprechende Rückmeldung aus der Filmbranche zugegangen oder bekannt.“
Doch nun liegt diese „Rückmeldung“ schwarz auf weiß vor in Form eines offenen Briefs von insgesamt 108 UnterzeichnerInnen aus der Filmbranche, ohne die es keine Biberacher Filmfestspiele mehr geben wird. BLIX veröffentlicht im Folgenden den „Offenen Brief der Filmschaffenden“ an den Oberbürgermeister, den Gemeinderat, den Vereinsvorstand und die Vereinsmitglieder.
Ebenfalls nicht erfreut über die aktuellen Vorgänge zeigt sich der in Los Angeles lebende Star-Regisseur Werner Herzog. Foto: Georg Kliebhan
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit großer Sorge haben wir der Schwäbischen Zeitung, diversen Filmzeitschriften und verschiedenen Posts in den sozialen Medien entnommen, dass der Vorstand und die Intendanz sich nicht auf eine Vertragsverlängerung einigen konnten.
Dies erfüllt uns mit Sorge, weil wir die Zukunft des Festivals in Gefahr sehen: ein Festival, das wir Filmschaffende lieben und zu dem wir liebend gerne die meist weite Reise antreten, manche von uns schon seit den Anfangsjahren.
Dank Adrian Kutters hervorragender Vernetzung in der Branche und seinem unermüdlichen Einsatz hat es sich in über 40 Jahren zu einem deutschlandweit bekannten und geschätzten Festival entwickelt. Für uns ist der Slogan „Familientreffen deutscher Filmemacher“ nicht nur Slogan, sondern eine über Jahrzehnte gewachsene Auszeichnung und Beschreibung der Biberacher Filmfestspiele.
Wir alle kommen gerne nach Biberach, weil das Festival von Adrian Kutter und jetzt durch Helga Reichert und all’ die vielen helfenden Hände hervorragend organisiert ist. Wir kommen, weil wir in Biberach auf ein Publikum treffen, das uns neugierig, direkt, offen und warmherzig empfängt. Wir kommen, weil jede Filmvorführung in Biberach vor Publikum und unter Präsenz von Filmschaffenden stattfindet. Nur so sind die lebendigen Diskussionen nach dem Film möglich. Für diese Begegnungen sind wir dankbar. Diese Begegnungen machen Biberach einzigartig, ob im Kino, im langen Flur des Traumpalasts, in den Gasthäusern oder auf dem Wochenmarkt.
Vor allem aber kommen wir, weil das Festival die künstlerische und persönliche Handschrift von Adrian Kutter trug und jetzt seit zwei Jahren von Helga Reichert trägt. Es ist ein Glücksfall für das Festival und die Branche, dass sich mit Helga Reichert eine Nachfolgerin gefunden hat, die den Grundgedanken des Festivals als Ort der Begegnung von Film und Publikum fortführt und nach und nach mit einer eigenen Handschrift versieht.
Ihre künstlerische Kompetenz und künstlerische Unabhängigkeit schenkt uns Zuversicht, unsere Filme Helga Reichert anzuvertrauen und sie dem Biberacher Publikum vorzustellen. Es wäre ein Dammbruch in der deutschen Festivalgeschichte, wenn die Freiheit der künstlerischen Leitung begrenzt würde.
Wir haben uns bei Adrian Kutter künstlerisch wertgeschätzt und aufgehoben gefühlt. Und wir fühlen uns jetzt bei Helga Reichert künstlerisch wertgeschätzt, aufgehoben, willkommen und zuhause. Sie hat als Intendantin der Biberacher Filmfestspiele unsere Rückendeckung und genießt unser vollstes Vertrauen.
Mit Helga Reichert als Intendantin kommen wir gerne wieder.
Freundliche Grüße aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Bulgarien, Polen und den USA.
Die Filmschaffenden
- Sinan Akkus Regisseur, Köln
- Ferdinand Ascher Schauspieler, Starnberg
- Harry Baer Schauspieler, Berlin
- Birgit Baumgärtner Produzentin, Stuttgart
- Katja Benrath Regisseurin, Lübeck
- Senta Berger Schauspielerin, München
- Martin Blankemeyer Produzent, München, Münchener Filmwerkstatt
- Jean Christophe Blavier Regisseur, Stuttgart
- Anne Bolick Kamerafrau, Berlin
- Erik Borner Schauspieler, Frankfurt/Main
- Klaus-Maria Brandauer Schauspieler, Wien
- Jürgen Bretzinger Regisseur, Ravensburg
- Chris Brügge Regisseur, Berlin
- Robert Buchschwenter Autor, Wien
- Philipp Budweg Produzent, München, Lieblingsfilm
- Clara Burckner Filmverleiherin, Neustrelitz, Basis-Film Verleih
- Fabian Busch Schauspieler, Berlin
- Michael Chauvistré Regisseur, Aachen
- Julian Cohn Editor, Köln
- Horst Conradt Kinoleiter, Neustrelitz
- Didi Danquart Regisseur, Berlin
- Martina Döcker Autorin, Berlin
- Cathrin Ehrlich Festivalmacherin, Frankfurt am Main
- Martin Enlen Regisseur, München
- Annette Ernst Regisseurin, Frankfurt am Main
- Johannes Fabrick Regisseur, Wien
- Katrin Feistl Regisseurin, Frankfurt
- Katharina Fiedler Editorin, Berlin
- Stefan Friedrich Produzent, Stuttgart, Bluescreen Entertainment
- Marco Gadge Regisseur, Leipzig
- Rudi Gaul Regisseur, München
- Arek Gielnik Produzent, Stuttgart
- Godehard Giese Schauspieler, Berlin
- Klaus Gietinger Regisseur, Berlin
- Peter Goedel Regisseur, München
- Prof. Eberhard Görner Regisseur, Bad Freienwalde
- Jonas Grosch Regisseur + Autor, Berlin
- Michael Hammon Kameramann, Potsdam
- Peter Hartwig Produzent, Berlin, Kineo Filmproduktion
- Silvia Häselbarth Regisseurin, Luzern
- Felix Hassenfratz Regisseur, Köln
- Stefan Haupt Regisseur, Zürich
- Eleni Haupt Schauspielerin, Zürich
- Werner Herzog Regisseur, Los Angeles
- Christoph Holthof Produzent, Baden-Baden, kurhaus production
- Prof. Vladimir Ignatowski Professor für Film, Sofia
- Stefan Jäger Regisseur, Zürich
- Mimi Kezele Regisseurin, München
- Sigrid Klausmann-Sittler Regisseurin, Stuttgart
- Lena Knauss Regisseurin, Berlin
- Frauke Kolbmüller Produzentin, Hamburg, Oma Inge Filmproduktion
- Dieter Kosslick Festivalmacher, Berlin
- Chris Kraus Regisseur, Berlin
- Dieter Krauß Festivalmacher, Stuttgart
- Dirk Kummer Regisseur, Potsdam
- Daniel Kundrat Editor, Berlin
- Cord Lappe Produzent, Hamburg, Bergfilm Produktion
- Jochen Laube Produzent, Berlin, Sommerhaus Filmproduktion
- Fabian Linder Filmverband Südwest, Offenburg
- Monique Marmodée Regisseurin, Hamburg
- Sarah Masuch Schauspielerin, Hamburg
- Eva Mattes Schauspielerin, Berlin
- Michael Mendl Schauspieler, München
- Anna Maria Mühe Schauspielerin, Berlin
- Dorothea Neukirchen Autorin, Friedrichshafen
- Anne Osterloh Regisseurin, Berlin
- Monika Plura Kamerafrau, Hamburg
- Martina Plura Regisseurin, Hamburg
- Jakob Pochlatko Produzent, Wien, epo-film
- Dieter Pochlatko Produzent, Wien, epo-film
- Mischka Popp Regisseurin, Frankfurt am Main
- Sebastian Popp Produzent, Frankfurt am Main, STOKED FILM
- Robert Ralston Regisseur, Berlin
- Pit Rampelt Redaktion, ZDF Mainz
- Daniel Reich Produzent Berlin, kurhaus production
- Kim Riedle Schauspielerin, Berlin
- Peter Rommel Produzent, Berlin, Rommel Film
- Marianne Sägebrecht Schauspielerin, Bernried
- Christian Schiesser Schauspieler, Wien
- Volker Schlöndorff Regisseur, Potsdam
- Dorothee Schön Autorin, Ravensburg
- Christoph Schrewe Regisseur, Los Angeles
- Sebastian Schwarz Schauspieler, Berlin
- Christian Schwochow Regisseur, Berlin
- Petra Seeger Regisseurin, Berlin
- Rita Serra-Roll Agentin, Berlin
- Kanwal Sethi Regisseur, Leipzig
- Barbara Sieroslawski Regisseurin, Warschau
- Walter Sittler Schauspieler, Stuttgart
- Niki Stein Regisseur, Frankfurt/Main
- Johannes Suhm Schauspieler, Berlin
- Rudolf Thome Regisseur, Berlin
- Sibylle Tiedemann Regisseurin, Neu-Ulm/Berlin
- Tom Tykwer Regisseur, Berlin
- David Ungureit Autor, Frankfurt am Main
- Michael Verhoeven Regisseur, München
- Julia von Heinz Regisseurin, München
- Margarete von Schwarzkopf Autorin, Köln
- Katharina Wackernagel Schauspielerin, Berlin
- Hans-Jochen Wagner Schauspieler, Berlin
- Christian Werner Regisseur, Wien
- Heike Wiehle-Timm Produzentin, Hamburg, Relevant Film
- Marco Wiersch Autor, Köln
- Jens Wischnewski Regisseur, Hamburg
- Douglas Wolfsperger Regisseur, Berlin
- Doris Zander Produzentin, Berlin, Bavaria Fiction
- Ilona Ziok Regisseurin, Berlin
- Volkram Zschiesche Schauspieler, Berlin
Dieter Kosslick, ehemaliger Direktor der Berlinale, war im letzten als Juror zu Gast bei den Biberacher Filmfestspielen. Auch er zählt zu den prominenten Unterzeichnern des offenen Briefs. Foto: Georg Kliebhan
Volle Unterstützung erhält Helga Reichert auch vom Ravensburger Regisseur Jürgen Bretzinger und von Schauspielerin Eva Mattes; hier beim Dreh einer Tatort Episode am Bodensee. Foto: SWR
Autor: Alexander Koschny