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Ochsenhausen - Auch in Baden-Württemberg mangelt es an Hausärzten, trotz vieler junger Menschen, die Medizin studieren. Nicht jeder hat wie Anton Schlegel in Ochsenhausen das Glück, dass sein Sohn die Allgemeinarzt-Praxis weiterführt. Als Corona-Schwerpunkt-Praxis steht sie derzeit vor ganz besonderen Herausforderungen.

Aller Fernsehserien-Romantik à la „Der Bergdoktor“ zum Trotz: In den letzten Jahren entwickelte sich besonders in ländlichen Regionen ein zunehmender Mangel an Hausärzten. In Baden-Württemberg sind über 25 Prozent der Hausärzte älter als 60 Jahre, viele Regionen sind bereits unterversorgt. Laut einer Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gibt es in diesem Jahr rund 7000 Hausärzte weniger als noch 2010. Dabei bräuchte doch unsere alternde Gesellschaft mehr Allgemeinmediziner und Mittel zur ambulanten Versorgung. Nach Honorarkürzungen Anfang der 1990er Jahre stand für die ambulante Patientenversorgung nur noch ein begrenztes Honorarvolumen zur Verfügung. Das vergleichsweise geringe Einkommen bei hoher Arbeitsbelastung sowie das mangelnde Sozialprestige und die fehlende Infrastruktur im ländlichen Raum halten junge Mediziner davon ab, Hausarzt zu werden. Besonders Frauen finden es schwierig, den Hausarztberuf mit der Familienplanung zu vereinbaren. In Baden-Württemberg sind nur 34 Prozent der rund 6800 zugelassenen Hausärzte weiblich.
Frauen sind im Medizin-Studium derzeit in der Überzahl. „Viele von ihnen ziehen eine geordnete Anstellung in der Klinik vor, statt sich alleine niederzulassen“, beobachtet Anton Schlegel, der bereits vor 35 Jahren in Ochsenhausen die Allgemeinarztpraxis von Dr. Keller übernommen hat. Dem in Unterstadion geborenen Schlegel wurde bereits während des Studiums in Heidelberg, wo er promovierte, empfohlen, Hausarzt zu werden, schon wegen seines jovialen, zugewandten Wesens, erinnert sich Schlegel (65). In der Chirurgie wollte er nicht bleiben und beschloss, nach Stationen in Mannheim, Biberach und Bad Waldsee, sich in Ochsenhausen niederzulassen. „Manchmal gibt es Tage, da bist du platt am Abend“, gibt er zu. Aber er liebt die so abwechslungsreiche Arbeit und hat seine Entscheidung, Allgemeinarzt zu werden, nie bereut. „Wir wurden eine große Praxis, zeitweise mit fünf Kollegen.“ Einer davon ist seit diesem Jahr sein Sohn Martin (33). Dessen drei Jahre älterer Bruder Philipp ist Facharzt für Innere Medizin im Uni-Klinikum Heidelberg. 

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Martin Schlegel (links) tritt als Hausarzt in die Fußstapfen seines Vaters Anton. Foto: Andrea Reck 

„Martin wollte ursprünglich ‚was im Anzügle machen‘ und studierte BWL“, erinnert sich der Vater. Doch es kam anders. 2020 schloss er seine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin in der väterlichen Praxis ab. Ab 1. Januar wird Anton Schlegel seinem Sohn und der langjährigen Praxis-Kollegin und Gesellschafterin Olga Bangert nur noch halbtags zur Seite stehen. „Die ersten FP3-Masken haben wir uns von unseren Handwerkern geholt“, erinnert sich Bangert an die ersten Wochen der Pandemie im Frühjahr. „Zur Zeit sind nur noch Handschuhe Mangelware“, erklärt sie, während sie ihren Schutzanzug überstreift und die Schutzbrille aufsetzt. Seit 23 Jahre arbeitet die aus der ehemaligen Sowjetunion stammende resolute Frau als Allgemeinärztin. „Ich habe keinen Tag bereut, die Arbeit ist so vielfältig.“ Martin Schlegel, der in Ulm studiert und in Göppingen gearbeitet hat, stimmt ihr zu: „Ja, das Abwechslungsreiche ist es, was Spaß macht. Und es kommt etwas zurück von den Patienten. Das erlebt man so im Krankenhaus nicht.“
Er kennt durchaus Studienkollegen in Kliniken, die mit dem Gedanken spielen, den Facharzt für Allgemeinmedizin zu machen. „Zum Glück gibt es einige Quereinsteiger“, ergänzt der Vater. „Bei uns in Ochsenhausen ist die hausärztliche Versorgung noch gut und gesichert. Würden jedoch alle über 67-Jährigen aufhören, würde glatt die Hälfte der Ärzte fehlen.“ Deshalb befürwortet er, dass in Baden-Württemberg bis 2021 150 Studienplätze zusätzlich geschaffen werden für Studierende, die sich verpflichten, Allgemeinarzt zu werden.

„Manchmal bist du abends platt“

Bis Jahresende ist Anton Schlegel noch Vollzeit dabei. Insgesamt gibt es zwar weniger Hausbesuche als früher, was auch am gut organisierten Notdienst liegt, aber chronisch Kranke besucht Anton Schlegel selbstverständlich seit Jahren regelmäßig und versorgt sie zusammen mit der Sozialstation. „Natürlich ruft man uns gerne auch mal aus Bequemlichkeit und auch schon mal bei leichter Temperatur, aber das sind die Ausnahmen.“ Auch Sohn Martin übernimmt derzeit schon Hausbesuche und wird das auch weiterhin tun.
„Wir sind als eine von 1136 Corona-Schwerpunktpraxen in Baden-Württemberg total am Limit derzeit“, berichtet er. Diese regulären Haus- oder Facharztpraxen halten für Corona-Verdachtsfälle spezielle Sprechstunden vor, worum die Kassenärztliche Vereinigung gebeten hat. „Wir haben schon dank unserer zwei Eingänge ideale Räumlichkeiten. Auf einer Seite halten wir die normale Sprechstunde, auf der anderen Seite bieten wir täglich von zehn bis zwölf die Infektionssprechstunde an in Schutzkleidung, mit Mundschutz und Visier sowie mit Trennwand. Wurde anfangs durchschnittlich ein Patient pro Woche positiv getestet, so sind es jetzt zwei bis drei. In Ochsenhausen gab es ja auch Corona-Fälle in Schulen und Altenzentren. Seit gestern sind die Testkapazitäten in den Laboren erschöpft, wir sollen nur noch von symptomatischen Patienten Abstriche machen“, bedauert der Arzt Anfang November. „Dabei sind ja die problematisch, die keine Symptome haben. Manche Kollegen befürworten Fieberambulanzen, wie wir sie im Frühjahr hatten.“ Olga Bangert erlebt, dass die Hausärzte für viele Patienten in Corona-Fragen die ersten Ansprechpartner sind, vor allem auch, wenn sie im Gesundheitsamt nicht durchkommen. Von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) fühlt sie sich gut unterstützt: „So schnell hat die KV noch nie reagiert.“ „Wir sind in vielen Fragen die ersten Ansprechpartner. In Pandemiezeiten können wir uns natürlich nicht verweigern etwa aus Angst vor eigener Ansteckung“, ergänzt Anton Schlegel. „Wir kennen uns aus im Umgang mit Viren. Wer soll’s denn sonst können?“ Lachend zitiert er einen früheren Slogan der KV: „Wir arbeiten für Ihr Leben gern.“
Im zweiten Quartal registrierte die Praxis dennoch zehn Prozent weniger Patienten. „Viele haben wohl Angst vor Ansteckung“, vermutet Anton Schlegel. Auch die Apotheke von Schlegels Frau Renate auf der gegenüberliegenden Straßenseite wird derzeit etwas weniger frequentiert, mehr Patienten als sonst bestellen wohl übers Internet.
Die Zusammenarbeit von Vater und Sohn läuft bestens. „Ich steuere meine langjährige Erfahrung bei, Martin bringt die aktuellen Therapieleitlinien mit“, erklärt der Allgemeinarzt. Der Junior hat bereits eine Videosprechstunde eingerichtet und pflegt die Homepage. „Ich bin froh, dass es so gut funktioniert. Zum Glück haben die Kollegen das Bürokratische voll im Griff. Das ist mehr Aufwand, als ich erwartet hatte“, gesteht der junge Arzt, während schon der erste Patient des Tages auf seinen Abstrich wartet.

 

„Wir steuern auf einen Mangel zu“

Biberach - Der Hausärzteverband Baden-Württemberg will mit dem Programm Perspektive Hausarzt Baden-Württemberg Medizinstudierende vom Hausarztberuf begeistern. BLIX fragte den Biberacher Allgemeinarzt Dr. Frank-Dieter Braun, den zweiten Vorsitzenden des Hausärzteverbands Baden-Württemberg, wie es um die Versorgung mit Hausärzten in Oberschwaben steht.

Frank-Dieter Braun: Die hausärztliche Versorgung im Landkreis Biberach ist derzeit noch ausreichend. Für rund 200.000 Menschen stehen 134 Hausärztinnen und Hausärzte zur Verfügung, von denen jedoch 33 Prozent über 60 Jahre alt sind. Wir steuern in den nächsten Jahren auf einen Mangel zu. Das gilt auch für andere Landkreise. Von den 7112 Hausärztinnen und Hausärzten in Baden-Württemberg sind 37 Prozent über 65 Jahre alt.

Was muss passieren, dass mehr Medizinstudierende sich für Allgemeinmedizin entscheiden?
Ich frage mich, warum nur zehn Prozent der Studierenden sich für die Allgemeinmedizin entscheiden. In unserer Praxis im Risscenter führen wir Praktika für Studierende im 8. und 9. Semester durch. Oft sind die Studierenden überrascht, wie vielseitig und interessant unser hausärztlicher Alltag ist, und dass über 80 Prozent aller Patientenprobleme in der Hausarztpraxis gelöst werden. Das haben sie vier Jahre an der Uni nicht gelernt.

Woran liegt das?
An den Universitäten wird eher in Fächerdenken ausgebildet und das sollte geändert werden. Die Allgemeinmedizin muss als eigenständiges Fach Teil des Medizinstudiums werden, und am Ende des Studiums oder in der Weiterbildung müssen Anreize geschaffen werden Facharzt (-ärztin) für Allgemeinmedizin zu werden. Kursangebote, Stipendien, Mentorenprogramme wären hier beispielsweise zielführend. Der Baden-Württembergische Hausärzteverband ist mit der ‚Perspektive-Hausarzt‘ schon jahrelang aktiv, wir könnten allerdings noch mehr Unterstützung gebrauchen. Vom Beginn des Studiums bis zur Niederlassung in der Praxis vergehen ungefähr zwölf Jahre, die Zeit drängt also.

Dr. Frank Dieter Braun Foto Michael Kettel

Dr. Frank-Dieter Braun. Foto: Michael Kettel

Autorin: Andrea Reck

 

Schiere Zeitverschwendung

Ist der Hausarzt eine aussterbende Spezies? Ja, lässt sich behaupten, wenn man den Begriff wörtlich nimmt. Denn so wie Dr. Lampert 1963 zu Fuß von Haus zu Haus unterwegs war, gehört es heute zur Ausnahme, dass „der Doktor“ seine Patienten zu Hause untersucht.

„Es war der Anfang von vielem“, erklärt Guido Mangold. Der junge Fotograf aus Ravensburg und spätere Starfotograf begann seine Karriere mit einer Fotoreportage über einen Arbeitstag im Leben des Landarztes Dr. Lampert in Berg bei Ravensburg. Seine Fotos erschienen im März 1963 in der Zeitschrift Quick, die Mitte der 60er Jahre wöchentlich mit 1,7 Millionen Exemplaren erschien. Mangolds Zeitdokumente zeigen in Nahaufnahme eine verschwundene Welt, in der die Zeit noch langsam war und der Doktor noch einen Hut trug.
Perdu! Die Zeiten haben sich geändert. Welcher Allgemeinmediziner, der Hausarzt ist, möchte sich für 22 Euro ins Auto setzen, um einen bettlägerigen Patienten zu besuchen? „Ein Hausbesuch ist für einen Arzt ein Verlustgeschäft“, stellt Dr. Bettina Boellaard, Hausärztin in Bad Saulgau und Vorsitzende der Kreisärzteschaft Sigmaringen, nüchtern fest. „In der Zeit, die ich für einen Hausbesuch brauche, könnte ich in der Praxis viel mehr Patienten behandeln“, lautet ihre Rechnung. Deren Ergebnis sich verschärft durch den zunehmenden Mangel an Landärzten: weniger Ärzte für mehr Patienten gleich weniger Zeit. Da erscheint es schiere Zeitverschwendung, wenn der Arzt oder die Ärztin sich auf Hausbesuch begibt.
Laut Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung haben Ärzte im vergangenen Jahr 24,6 Millionen Hausbesuche absolviert, das sind sechs Millionen, also ein Sechstel weniger als im Jahr 2009. Abhilfe sollen Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis (Verah) und Nichtärztliche Praxisassistentinnen (Näpa) schaffen. Die solchermaßen fortgebildeten Medizinische Fachangestelltinnen können im Auftrag des Arztes, Patienten vor Ort Blut abnehmen, Blutdruck messen oder eine Spritze geben. 3500 Verahs und 1300 Näpas sollen laut Hausärzteverband 65.000 Hausbesuche 2018 in Baden-Württemberg absolviert haben. Tendenz steigend.
Aber die Kompetenz der Assistentinnen endet am Krankenbett, wenn es um diagnostische und therapeutische Entscheidungen geht. Ganz banal: „Bauchschmerzen sind zum Beispiel ein Symptom, das auf ganz viele unterschiedliche Krankheitsbilder hinweisen kann“, erklärt Bettina Boellaard. „Wenn man als Arzt herausfinden will, ob es sich um eine Blinddarmentzündung oder etwas anderes handelt, kommt man um eine körperliche Untersuchung nicht herum.“
Für die Ärztin ist der Hausbesuch trotz miserabler Honorierung und mangelnder Zeit kein Auslaufmodell. „Die Qualität des Gesundheitswesens bemisst sich nicht unbedingt an der Anzahl der ärztlichen Hausbesuche“, gibt sie zu bedenken, „aber ein Gesundheitssystem ganz ohne diese Option ist sicherlich schlechter aufgestellt.“
Wetten, dass Dr. Lampert in Berg dem zugestimmt hätte? 

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Autor: Roland Reck
Fotos: Guido Mangold

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