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Leutkirch - Schließlich tat Gottfried Härle, was von ihm erwartet wurde: sich in vierter Generation um die Brauerei seiner Vorfahren zu kümmern. Nach Volkswirtschaftsstudium in Konstanz und Friedensaktivismus in Stuttgart kehrte der 29-Jährige Ende 1983 in seine Heimatstadt nach Leutkirch zurück. Seinen politischen Überzeugungen folgend, führte er als Geschäftsführer die Härle-Brauerei konsequent auf den „grünen Pfad“. Das Unternehmen wurde mehrfach ausgezeichnet für sein nachhaltiges und soziales Konzept. Härle ist seit 1989 Mitglied der Grünen, ist langjähriger Gemeinderat in Leutkirch und war 1992 Mitbegründer des Wirtschaftsverbandes UnternehmensGrün, heute Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft. Seit 2016 teilt sich Gottfried Härle die Geschäftsführung mit seiner designierten Nachfolgerin Esther Straub (34). Härle heiratete 1989 seine langjährige Freundin Ursula Maurer, die ebenfalls im „Aktionsbüro“ der Friedensbewegung aktiv war und als Steuerberaterin selbstständig ist. Das Ehepaar traf sich zum Gespräch mit BLIX-Chefredakteur Roland Reck im Biergarten vor dem „Kontor“ der Brauerei.

 

Die Friedensbewegung war Anfang der 80er-Jahre eine starke politische Kraft, die dennoch scheiterte. Die Nachrüstung wurde beschlossen und die Raketen aufgestellt. Wie gingen Sie mit dieser Niederlage um?

Gottfried Härle: Natürlich war nach der ersten Euphorie über das Gelingen der Menschenkette auch bei mir die Enttäuschung riesig, als wenige Monate nach den Herbstaktionen die atomare Nachrüstung beschlossen wurde. Viele Menschen in der Friedensbewegung reagierten mit Resignation. Zwischen den Organisationen, die die Menschenkette politisch getragen haben, brachen die alten Konflikte wieder auf. Dies führte zu einer weiteren Schwächung der gesamten Friedensbewegung. 

 

Ende der 80er-Jahre veränderte Gorbatschow die Welt grundlegend, ganz im Sinne der Friedensbewegung, aber auch der Nachrüster, die die Politik Gorbatschows als ihren Erfolg reklamierten. Zurecht? War der NATO-Doppelbeschluss rückblickend nicht doch richtig?

Maurer-Härle: Nein, der NATO-Doppelbeschluss war nicht der Friedensstifter. Gorbatschow und die damalige russische Führung haben sich von den NATO-Waffen nicht in die Knie zwingen lassen, sondern wollten einfach keinen Krieg.

Gottfried Härle: Ob und in welchem Umfang die Aktionen der Friedensbewegung die Entwicklung in der Sowjetunion beeinflusst haben, ist offen. Allerdings gab es Hinweise, dass der hunderttausendfache Protest gegen die Nachrüstung Gorbatschow dazu ermutigt hat, seinen Kurs noch konsequenter durchzusetzen. Für die Veränderungen im Ostblock waren aber wohl andere Gründe noch viel bedeutender: der wirtschaftliche Niedergang insbesondere in der Sowjetunion, der wachsende Unmut vieler Menschen über die politischen Verhältnisse in ihren Ländern – vor allem aber der Mut, die Tatkraft und die Vision von einem Menschen, nämlich von Michail Gorbatschow. Weder die westliche Friedensbewegung noch die allermeisten Politiker hatten es Anfang der achtziger Jahre auch nur im Geringsten für möglich gehalten, dass 1989 die Mauer fallen würde.

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Gottfried Härle als Friedensaktivist Anfang der 80er Jahre. Als Kriegsdienstverweigerer engagierte er sich bei der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK) und organisierte in seiner Heimatstadt Leutkirch die Friedenswochen. Foto: privat

Seit eineinhalb Jahren herrscht wieder Krieg in Europa, so als ob es die Friedensbewegung und Gorbatschow nie gegeben hätte. Gorbatschow ist tot, ist es die Friedensbewegung auch? Und wenn ja, warum?

Maurer-Härle: Klar definiertes Ziel der damaligen Friedensbewegung war, die Nachrüstung durch atomare Mittelstreckenraketen zu verhindern. Das ist nicht gelungen. Und das war das Ende der Friedensbewegung der 80-iger Jahre. Der Fall der Mauer nur einige Jahre nach der Menschenkette erschien uns damals als das Ziel unserer Träume. Deshalb war auch keine Friedensbewegung mehr nötig. So dachte ich.

Gottfried Härle: Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung des Ostblocks machte sich vor allem im Westen die Stimmung breit, dass die Gefahr eines Krieges in Europa in weite Ferne gerückt sei. Daran änderte auch der Balkankrieg Ende der 1990er Jahre nur wenig. In der Folge löste sich die Friedensbewegung fast komplett auf, viele ehemals Engagierte sahen in der Umwelt- und Klimakrise die weitaus größere Gefahr für die Zukunft der Menschheit. Dass dann im Februar 2022 mitten in Europa ein mörderischer Krieg ausbricht, ausgelöst durch einen Machthaber in Moskau, der sich in Kürze zum Kriegsverbrecher entwickelt hat, kam für die meisten Menschen in Deutschland überraschend – obwohl die wahren, imperialistischen Absichten von Putin mehrfach deutlich erkennbar waren. Auch die noch bestehenden, allerdings sehr kleinen Reste der Friedensbewegung traf dieser Krieg völlig unvorbereitet.

 

Das zentrale Motto der Friedensbewegung lautete: „Frieden schaffen ohne Waffen!“ Offenbart der Angriffskrieg Russlands nicht dessen Untauglichkeit? Und erklärt diese Offenbarung auch die Sprachlosigkeit der Friedensbewegung angesichts des Krieges in der Ukraine?

Maurer-Härle: Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Damals, vor 40 Jahren, wurden wir von den Ereignissen nicht widerlegt, sondern bestätigt. Heute ist das völlig anders. Putin und die Leute, die seine Macht stützen, haben alle Vernunft, Menschlichkeit und Zivilisiertheit verloren. Dass deshalb jeden Tag viele Menschen getötet, verletzt, verjagt und gedemütigt werden, nur weil sie Ukrainer sind, lässt mich verzweifeln.

Gottfried Härle: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat viele Menschen, die früher in der Friedensbewegung aktiv waren, tief verunsichert. So auch mich. Für viele stellen sich bohrende Fragen: Darf man einem Land, das seine Existenz gegen einen mörderischen Aggressor verteidigen will, Hilfe, vor allem auch militärische Unterstützung, verweigern? Lässt sich in diesem Fall Frieden – so wie ihn sich die große Mehrheit der Menschen in der Ukraine wünscht – tatsächlich ohne Waffen schaffen? Kann einem Machthaber und Kriegsverbrecher wie Putin überhaupt ohne Waffen Einhalt geboten werden? Für mich persönlich lautet die Antwort auf alle Fragen: Nein. Und für mich bedeutet dies, dass das Motto aus den achtziger Jahren immer nur in einem konkreten geschichtlichen Zusammenhang gültig sein kann.

 

Sie sind im Rentenalter, Ihre persönliche Bilanz kann sich ohne Frage sehen lassen, wie sieht es mit der politischen Bilanz Ihrer Generation aus?

Gottfried Härle: Die politische Bilanz unserer Generation wird vor allem durch eine Entwicklung massiv belastet: das Versagen beim Kampf gegen die Umweltzerstörung und den Klimawandel. Obwohl bereits seit dem ersten Bericht des Club of Rome im Jahre 1972 bekannt und wissenschaftlich belegt war, welche Gefahren auf die gesamte Menschheit zukommen, verweigerte sich unsere Generation den notwendigen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Im Gegenteil: der Raubbau an der Natur wurde nahezu unverändert fortgesetzt. Selbst heute, fünfzig Jahre später, sind viele nicht bereit, alles dafür zu tun, damit auch unsere Kinder und Enkel noch einen lebenswerten Planeten vorfinden.

Maurer-Härle: Unsere Gesellschaft ist sicherlich viel liberaler und freier geworden als zu meiner Jugendzeit. Das ist ein Erfolg. Aber in Bezug auf den Erhalt unserer Umwelt haben wir versagt, trotz besseren Wissens. Ich nehme mich dabei nicht aus. Ab und zu schaue ich mir auf google earth Bilder unseres Planeten an und kann das Wunder nicht fassen. Dass wir – insbesondere der privilegierte Teil der Erdbewohner - so wenig respekt- und rücksichtsvoll mit diesem Riesengeschenk umgehen, ist unglaublich.

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Autor: Roland Reck

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