Haben Globalisierung und Migrationsschübe den Begriff Heimat von einem kulturellen mehr zu einem politischen Thema werden lassen? Was verstehen Menschen rund um Biberach, das in diesem Jahr die Heimattage Baden-Württemberg ausrichtet, ganz persönlich unter diesem Wort?
Vom 5. bis 7. Mai lädt Biberach mit einem sehr vielfältigen Programm zum offiziellen Auftakt der Heimattage ein ( www.heimattage-biberach.de). „Heimat“ ist eines der Wörter, das sich schwer in andere Sprachen übersetzen lässt. Vor dem 19. Jahrhundert wurde es kaum gebraucht, zur Zeit des Nationalsozialismus vielfach missbraucht. Kurz vor 1900, während des Verstädterungs- und Industrialisierungsschubs, war viel über Heimat zu hören und zu lesen, mehr als etwa 1940. Bis etwa 1990 war der Begriff der Heimat geradezu verpönt. Erst seit gut zehn Jahren ist Heimat wieder ein Thema. Auch und gerade bei jungen Leuten: denkt man nur an die Heimatsound-Musik. Wobei eine 14-jährige Schussenriederin, um ein Statement gebeten, nicht antworten wollte, da dieses doch eher ein Thema für ältere Menschen sei.
Was Heimat bedeutet, erfährt man spätestens, wenn man sie verlässt oder verliert. In der Literatur finden sich seit 1830 Heimatdichtung und Dorfromane. Romane von Ludwig Ganghofer etwa wurden massenweise gelesen, heute sind es eher die Regionalkrimis. Heimat verbinden viele mit den ersten Erfahrungen in einem vertrauten Raum, in dem man laufen und sprechen lernte. Spielkameraden, Nachbarn und Freunde, Omas Apfelkuchen, Weihnachten zuhause, Schulfeste. Das Paradies der Erinnerung, aus dem man angeblich nicht vertrieben werden kann. Was bedeutet 2023 der Begriff Heimat? Wir haben Menschen im Landkreis die Frage gestellt: „Was ist Heimat und was bedeutet Heimat für Sie?“
Eine Art Wiederkehr
Richard Holzberger (46) vom Kreisverband Biberach des Bundes der Vertriebenen:
„Wir sind aus Sathmar/Rumänien als Aussiedler nach Biberach gekommen. Es ist eine Art Wiederkehr gewesen, da ein Teil der Vorfahren aus dem Oberschwäbischen Raum im 18. Jahrhundert nach Sathmar ausgewandert waren. So habe ich auch zwei oder mehr Heimaten bekommen, und deswegen bot sich die Mitarbeit beim Bund der Vertriebenen an. Mittlerweile lebe ich in München, meine Eltern aber in Biberach. Der Begriff Heimat ist abgeleitet vom Heim und meint: wo mein Heim, Familie, Freunde, Kollegen, Bekannte sind, ist auch meine Heimat. Gerade heute in Zeiten der Digitalisierung, der fließenden Identitäten ist der Begriff nicht mehr ausschließlich auf einen geografischen Ort bezogen. Es gibt mittlerweile auch digitale Nomaden. Für mich ist die Heimat etwas Wiederkehrendes und wechselt sich mit dem Unbekannten ab.“
Heimat ist eine Utopie
Frank Brunecker, (60), geb. im niedersächsischen Oldenburg, Leiter Museum Biberach:
„Menschen sind soziale Wesen. Von jeher leben wir in Gruppen oder Familien, haben Freunde, Kollegen und Kontakte, kommunizieren, sprechen eine gemeinsame Sprache, arbeiten gemeinsam, bauen Wohnstätten, Versammlungsorte, Städte und Verkehrswege und richten uns ein in dieser Welt. Dabei binden wir unsere Herzen nicht nur an Mitmenschen, sondern auch an Orte, Gegenden oder Landschaften, die wir mit Geborgenheit, Herkunft und vielen anderen identifikatorischen Bedeutungen emotional aufladen. Meist ist dieser jeweils besondere Ort unser Geburtsort, und meist nennen wir ihn Heimat. Doch mit diesem eigentlich harmlosen Heimatbegriff wurde in der Geschichte - besonders in Deutschland - viel Schindluder getrieben und wurde die eigene Heimat über alle anderen gestellt. Dabei gibt es viele Heimaten, so viele wie es Menschen gibt, und von jeher war der Mensch auch ein Wanderer, der irgendwo auf der Welt neu anfangen musste, um sich eine neue Heimat zu schaffen. Deshalb ist Heimat eigentlich ein Nichtort - griechisch: ou topos, eine Utopie, ein Sehnsuchtsort, den wir in unseren Herzen finden und den ich von Herzen jedem Mitmenschen gönne.“
Heimat als Gemeinsamkeit
Dr. Michael Schieble, (55), geb. in Köln, Vorsitzender der Gesellschaft für Heimatpflege Biberach:
Heimat ist Vertrautheit, Wohlfühlen, Gebor-genheit. Dies muss nicht unbedingt ein Ort oder eine Region sein, sondern kann auch durch ein gemeinsames Wertekorsett gebildet werden. Zu meinem persönlichen Heimatbegriff zählt deswegen zum Beispiele auch das Grundgesetz. Da der Heimatbegriff leider immer wieder Gefahr läuft, von radikalen Interessengruppen für eigene Zwecke missbraucht zu werden, ist es für mich wichtig, das Gemeinsame und nicht das Trennende von „Heimat“ zu betonen.
Verstanden werden
Dr. Marianne Roether-Rezapour (66), geb. in Pforzheim, lebt in Mashad/Iran:
„Heimat ist für mich der Ort, an dem ich verstanden werde und wo man mich braucht. Wenn man schon seit vielen Jahren im Ausland lebt, ist es hilfreich, in der alten Heimat, in der der Ursprungsfamilie, noch eine Adresse zu haben.“
Gefühl des Liebgewordenen
Muriel Sender, (37), geb. in Tübingen, Pfarrerin in Ummendorf:
„Heimat ist für mich das Gefühl, das sich einstellt, wenn etwas zu Liebgewordenem wurde. Der Klang einer Bachkantate, das Betreten eines Gotteshauses, ein Waldspaziergang, Chorsingen, der Duft eines afghanischen Reisgerichts, die offene Begegnung mit Menschen.“
Viele kleine Bausteine
Norbert Zeidler, (55), geb. in Ellwangen, Oberbürgermeister Biberach:
„Was Heimat für mich bedeutet, ist nicht ganz einfach zu verschriftlichen. Denn: Heimat ist ein mehrdimensionales Konzept. Klar ist: Jeder plumpe, ‚heimattümmelnde‘ Umgang mit der Sache wird dem Thema in keiner Weise gerecht. Und häufig genug merkt man erst, was zur Heimat gehört, wenn man eine Zeit lang darauf verzichten muss. Heimat, das umfasst für mich Menschen, die mein Leben geprägt haben und noch immer prägen – Familie und Freunde beispielsweise. Heimat, das meint aber auch bestimmte Orte, an denen sich die eigene Identität ausgeprägt hat. Und dann gehören zum Konzept der Heimat auch viele kleine Bausteine: Musik, mit der man etwas verbindet etwa, Leib- und Magengerichte, die einen ein Leben lang begleiten – oder auch Traditionen, die einem am Herzen liegen. Wer ein solches Konzept von Heimat live erleben möchte, dem sei ein Besuch auf dem Biberacher Schützenfest dringend empfohlen – Heimat in ihrer schönsten Form!“
Heimat finden, wo man lebt
Fahad Abde (24), geb. in Idwar/Syrien, mit 16 Jahren nach Deutschland geflohen, macht zurzeit eine Ausbildung zum Krankenpfleger:
„Das Wort Heimat existiert auch auf Arabisch. Heimat ist für mich Syrien, wo ich meine Kindheit verbrachte. Aber man kann eine neue Heimat finden, wo man lebt, eine Arbeit hat und Freiheit genießt. Heimat hat auch mit Sprache zu tun. Wenn man verstanden wird und mit Menschen gut auskommt, fühlt man sich manchmal genauso heimisch wie mit eigenen Landsleuten. Vielleicht wird Deutschland für mich zur echten Heimat, wenn ich hier einmal eine eigene Familie habe.“
Geliebte Ecken und Plätze
Josef Angele (74), lebt seit seiner Geburt in Ummendorf:
„Heimat bedeutet für mich zu Hause sein und Wohlfühlen in der Geborgenheit der Familie und in über Jahre gewachsenen Freundschaften. Ein mit allen Sinnen zu genießendes vertrautes Umfeld in bekannten und geliebten Ecken und Plätzen in unseren Dörfern und in einer bei uns noch zum größten Teil intakten Natur in heimischen Wäldern und Feldern. Heimat bedeutet für mich auch die Liebe zu unserer schwäbischen Sprache, der Klang des heimatlichen Dialekts, der mich seit meiner Kindheit begleitet, den ich sehr gerne pflege und unbedingt bewahren möchte.“
Zu Hause sein
Dr. Christa Enderle (76), geb. in Riedlingen, Vorsitzende des Altertumsvereins Riedlingen:
„Heimat ist, wo ich mich wohlfühle, wo ich geboren bin, wo ich die Sprache spreche. Und wo ich weiterhin mein Leben zubringen möchte.“
An verschiedenen Orten zu Hause sein
Christian Kuhlmann, (64), geb. in Gelsenkirchen, Baubürgermeister Biberach:
„Heimat bedeutet für mich zu Hause zu sein (auch an unterschiedlichen Orten). Oder mit einem Spruch von Frank Goosen (Kabarettist und Schriftsteller aus Bochum): ‚Woanders weiß man selber, wer man ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat.‘“