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SIGMARINGEN. Seine Stärke ist Vielseitigkeit. Rüdiger Sinn (49) ist von Beruf Schreiner, Grund- und Hauptschullehrer und arbeitet seit seinem Studium der Medienwissenschaft/Medienpraxis vor 14 Jahren als Journalist, unter anderem zehn Jahre als verantwortlicher Redakteur der Fachzeitschrift dach+holzbau, einer Zeitschrift für Zimmerer und Dachdecker. Als Fachjournalist und als Handwerker interessiert ihn besonders das ökologische Bauen. Er versteht sich als Netzwerker für ein „gutes Leben“, dem er mit anderen in einem Verein auf die Sprünge helfen will. BLIX will wissen: warum, wie und wohin?

 

Herr Sinn, Sigmaringen ist Verwaltungssitz, gilt als Beamtenstadt und hat mit dem Schloss der Hohenzollern große Geschichte als Kulisse, was ist Sigmaringen für Sie?

Ich bin in Sigmaringen aufgewachsen und daher ist es auch Heimat für mich. Ich mag die Region und die Natur und habe schöne Erinnerungen an meine Kinder- und Jugendzeit. Die Pfadfinder mit dem Leben in und mit der Natur haben mich sehr geprägt. Nun bin ich nach meinen ‚Wanderjahren‘ – an unterschiedlichsten Orten, an denen ich gearbeitet und studiert habe – nach 27 Jahren wieder zurückgekehrt und stelle fest: Sigmaringen ist, was neue Ideen der Nachhaltigkeit anbelangt, aus meiner Sicht hinten dran, es ist konservativ und sehr statisch. Das hat sicherlich mit seiner Historie zu tun. Ich sag‘ immer augenzwinkernd ‚über allem schwebt die Residenz‘, aber darauf braucht man sich ja nicht ausruhen. Sie könnte als eine Stadt in der Größe und mitten im ländlichen Raum eine perfekte Transition-Town – also eine Stadt im Wandel – sein. Mit unserer Initiative, die ich vor einem Jahr angestoßen hab‘ und aus der nun die Solidarische Landwirtschaft entstanden ist, haben wir aber eine Art Anlaufstelle für ‚die versprengten kreativen Ökos‘ hier in der Region geschaffen.

 

Was steckt in dem Projekt FairWandel? Das klingt nach fairer Handel.

Also, wir wollen auf jeden Fall fairen Handel und ein faires, achtsames miteinander Sein. Die Solidarische Landwirtschaft, die jetzt ins erste Jahr startet, ist hier ein Anfang. Das ist eine neue, solidarische Art des Wirtschaftens. Der Gärtner bekommt ein festes Gehalt und alle, die dabei sind, tragen das gemeinsame Risiko. Wir produzieren regional und bio und vermindern so natürlich auch den CO2-Fußabdruck. Das einfache Prinzip lautet: Wir teilen uns die Ernte! 

 

Über welche Bereiche erstreckt sich FairWandel noch?

Wir denken hier an einen grundsätzlich sozio-ökologischen und ökonomischen Wandel, an einen Kulturwandel. Angefangen von der Möglichkeit, sich in Männer- und Frauenkreisen zu begegnen und sich authentisch und achtsam auszutauschen – hier geht es also um Persönlichkeitsentwicklung –, über eine Gruppe, die sich dem gemeinschaftlichen Wohnen und Leben verschrieben hat, dem Repaircafé, das es seit letzten Sommer gibt und einer Gruppe, die sich dem kulturellen Leben widmet. Wir wollen in Sigmaringen ein soziokulturelles Zentrum eröffnen: Ein selbstverwaltetes Café wird dabei sein, ein Programmkino soll entstehen, Theaterwerkstätten, Tanz, Kultur, Kleinkunst, ein Co-Working-Space und Seminarräume. Also ein Treffpunkt, wo viele Menschen hinkommen können, ein Ort des Gedankenaustausches und des kreativen miteinander Schaffens.

 

Was soll sich denn genau wandeln?

Wenn ich mir unsere Gesellschaft und die Welt so anschaue: ganz schön viel! Ich bin mir sicher, dass zunächst ein Wandel in den Köpfen stattfinden muss. Ich für mich habe das so definiert: Ich bin Teil von allem und mir geht es nur dann gut, wenn es allen gut geht! Damit werden auch das derzeitige wirtschaftliche Tun und unsere Art zu leben krass in Frage gestellt. Wir bei FairWandel SIG möchten resiliente, also widerstandsfähige, sich selbst regenerierende Systeme aufbauen. Dazu braucht es unserer Meinung nach Gemeinschaft: Menschen, die Ideen haben und diese Ideen teilen, damit es allen gut geht. Im Repair-Café kann man das wunderbar beobachten: Da helfen die Reparateure denjenigen, die ein kaputtes Gerät bringen. Die Erfolgsquote liegt bei 70 Prozent und die Menschen kommen ins gemeinsame Tun, erleben sich als selbstwirksam und alle sind glücklich. Diese ‚Wandelbewegung‘ orientiert sich an der Permakultur, von der ich total begeistert und infiziert bin. Hier gibt es drei ethische Grundsätze: sorge für die Erde, sorge für die Menschen, begrenze Wachstum und teile Überschüsse. Die Permakultur ist mein persönlicher Lehrmeister, es ist eine Lebensphilosophie, die viel Freude macht und gleichzeitig hilft, die Welt zu verstehen.

 

Warum suchen Sie und Ihre MitstreiterInnen nach dem ‚guten Leben‘ – haben Sie es nicht?

Ich persönlich führe ein recht gutes Leben. Ich arbeite selbstbestimmt und darf kreativ sein. Als global denkender Mensch, kann ich mich damit aber nicht zufrieden geben: Stichwort Klimakrise. Es läuft aus meiner Sicht sehr viel falsch. Ganz oben steht für mich die Beobachtung, dass wir Menschen uns immer mehr von der Natur entfernen und damit von uns selbst. Darüber hinaus laufen vielen Menschen dem Dogma hinterher, dass diese Gesellschaft nur bestehen kann, wenn wir immer weiter wachsen. Das zu hinterfragen ist der erste Schritt, der nächste wäre dann, die Zinsen und Zinseszinsen abzuschaffen, denn das ist der Motor des Wachstums. Wachstum bräuchte es aus meiner Sicht nur im persönlichen Bereich und im Bio-Garten! Es gibt viele Ideen: Ich denke hier in Möglichkeiten und Lösungen, nicht in Problemen. Das ist mein Dogma und das funktioniert.

 

Konkret Handeln statt Theorien hinter Türen zu diskutieren. Das gab es schon einmal, als in Oberschwaben im Nachgang zu den städtischen 68ern vielerorts Landkommunen entstanden auf der Suche nach dem alternativen, besseren Leben. Dabei bedeutete besser auch weniger: bewusster leben durch weniger Konsum. Passt der Vergleich, ist er zulässig? Und was folgt daraus, 40 bis 50 Jahre nach dem Jugendaufstand von 1968, dessen Folgen auch Ihre Jugend prägte, nehm‘ ich an?

Ich mag das konkrete Handeln, aber ich mag auch die Theorien, denn ohne die wären wir heute nicht an diesem Punkt. Um FairWandel SIG zu gründen habe ich zum Beispiel vor einem Jahr eine Gruppe von Menschen zusammengetrommelt und mit einer gewissen Methodik einen Prozess in Gang gesetzt. Ich glaube, das unterscheidet uns von den 68ern, wir können auf Methoden, auf Tools, zurückgreifen und damit Gemeinschaftsprozesse in Gang setzen und positiv gestalten. Das war in den 68ern doch noch ziemlich viel trial and error mit den entsprechenden Verwerfungen. Ich würde sagen, dass die junge klimabewegte Szene heute den großen Vorteil hat, dass sie ohne Gewalt und sehr liberal aufgewachsen ist. Das spürt man dann bei diesen Demos: ziviler Ungehorsam ja, aber keine Gewalt. Es geht um Gemeinschaft und um gemeinschaftliches, sinnstiftendes Tun. Die 68er Zeit hat mich nur indirekt geprägt. Meine Eltern waren damals so um die 30 Jahre alt, und bei uns zu Hause ging es ziemlich konservativ zu. Vielleicht hat mich das aber auch so rebellisch gemacht. Ich hab meine eigene 68er Bewegung hinter mir: Als ich mit 23 zum Studieren nach Weingarten gegangen bin, sind erstmal die Haare gewachsen.

 

Vorstand FairWandel SIGErste gemeinsame Aktion des Vorstands war die Solawi-Ackerbegehung am vergangenen Wochenende. Im Bild von links: Kirsten Klein, Elke Hilzinger, Holger Linke, Rüdiger Sinn.

 

Wir leben mit hartnäckiger Ignoranz in krisenhaften Zeiten, die in dieser Dimension neu sind. Wie motivieren Sie sich und von was träumen Sie?

Ich war kürzlich bei einem Kongress, wo der Zukunftsforscher Matthias Horx einen Vortrag hielt. Einer seiner Sätze war: ‚Imaginieren Sie eine Zukunft, die funktioniert!‘ Der Satz gefällt mir und drückt aus, was ich meine, wenn ich sage, dass ich in Möglichkeiten denke und nicht in Problemen. Ich träume von einer Gemeinschaft im ländlichen Raum mit Stadtanschluss, die im Einklang mit der Natur lebt und ein großes Lernfeld für andere Menschen, eine Schule fürs Leben ist und die ausstrahlt. Ein Think-Tank mit Multiplikatoren-Potential für das gute Leben, das auch in Krisenzeiten – so wie derzeit – als Solidargemeinschaft bestehen kann!

 

Autor: Roland Reck

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